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I. Abschnitt: Altertum und Mittelalter,
Aristoteles verlangt den Unterricht in der Mathematik als das beste Mittel,
um den Verstand als solchen zu ermitteln und hebt ihre hohe Bedeutung
für die formale Bildung des Geistes hervor. Ebenso betont Euklid, wie sehr
der Geist durch die Mathematik im Denken geübt werde.
Solchen gewichtigen Stimmen gegenüber erheben sich jedoch auch die
Meinungen anderer Philosophen, die sie, wie z. B. Aristippos, verwerfen,
weil in ihr kein Beweis geführt werde, daß etwas gut oder schlecht sei; sie
nehme keine Rücksicht auf gut oder böse, daher sei sie belanglos für die
Erwerbung von. Weisheit und Lebensklugheit.
Bei den Römern, deren Sinn mehr auf das Praktische und Nützliche
gerichtet war, erfreute sich die Mathematik keiner hohen Wertschätzung;
das Maß dieser Kunst war bei ihnen nach Ciceros Ausspruch durch den
Nutzen des Rechnens oder Ausmessens begrenzt. Quintilian, dessen in-
stitutiones oratoriae eine ziemlich ausführliche interessante mathematische
Stelle aufweisen, weist zwar nach, daß sie auch für den Redner von großem
Nutzen sei, allein sie äußert diesen Nutzen nur während des Lernens;
nicht wenn sie erlernt ist. Bei den römischen Knaben begann der Unter-
richt nach beendeter infantia mit dem achten Lebensjahre. Wie bei den
Griechen der Grammatistes, so lehrte hier der Ludimagister Lesen, Schrei-
ben und Rechnen. Mit letzterem wurde im zweiten Halbjahr begonnen.
Da Zahlen durch Buchstaben dargestellt wurden, so war diese Reihenfolge
durch die Natur der Sache geboten. Als Mittel der Zahlenvorstellung. waren
im Altertum vier gebräuchlich: 1. Festsetzung bestimmter Beugungen
und Stellungen der Finger, 2. Anwendung von Recheninstrumenten;
3. Gebrauch zusammenfassender Zeichen, 4. Verwendung von Buchstaben
als Zeichen. Das Fingerrechnen war bei den Griechen wie bei den Römern
in Übung. Mit den Fingern der linken Hand wurden alle Einer und Zehner,
mit denen der rechten Hand alle Hunderter und Tausender dargestellt, so
daß mit beiden Händen gleichzeitig alle Zahlen von 1 bis 9999 bezeichnet
werden konnten. Das Legen der linken Hand auf Brust, Hüfte, linke Seite
bedeutete die Zehntausender, dasselbe mit der rechten Hand die Hundert-
tausender; Falten der Hände galt eine Million. Auch benutzte man die ge-
nannten Fingerstellungen, um beim Kopfrechnen die Zwischenresultate
so lange als nötig zu behalten. Als Recheninstrument diente den Griechen
wie den Römern das Rechenbrett, Abax oder Abacus; eine Platte mit
7 langen und 7 kurzen Geleisen (Kolumnen). In den langen befinden sich
4 Knöpfe, in den kurzen, die senkrecht über diesen in ihrer Verlängerung
liegen, nur je einer. Diese Knöpfe oder Steinchen hießen bei den Griechen
wor, bei den Römern calculi, daher heißt Rechnen calculos ducere.
Der eine Knopf in dem kurzen Gleise gilt so viel als fünf Einheiten in dem
zugehörigen langen Gleise. Diese letzteren sind mit Kopfzahlen versehen;
deren Werte mit 1 anfangen und in geometrischer Reihe, nach 10, 100 usw.,