Full text: Geschichte des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts (1. Band)

III. Kapitel: Mittelalter. 
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in den Kreis der Darstellung gezogen werden. Ebenso wie dieser 
Leonhard aus Pisa seine Vorbilder überholt und nicht nur durch gelegent- 
Jiches Anbringen von etwas Neuem, sondern durch die ganze Behand- 
Jungsweise des Stoffes zeigt, daß er über diesem steht und sich zu selb- 
ständigen Auffassungen hindurchgerungen hat, zeigt sich diese Erstarkung 
des Geistes auch bei den anderen Männern, die wir als die eigentlichen 
Träger und Förderer des Wissens im 13. Jahrhundert anzusehen haben. 
Jordanus Nemorarius (} 1236) erhärtet in seiner Arithmetik die arith- 
metischen Wahrheiten an Buchstaben, bringt den polynomischen Lehr- 
satz für den Exponenten 2, führt in seinem „Algorithmus demonstratus‘“ 
auch die Null und die arabische Schreibweise der Zahlen ein, lehrt das 
Überwärtsdividieren, und schreibt ein Liber de triangulis, das fast schon 
„einem modernen Kompendium der Geometrie‘ ähnelt. In seinem Liber 
de ponderibus bahnt er die Lösung mechanischer Probleme durch dyna- 
mische Betrachtungen an, leitet so die Gesetze der schiefen Ebene und 
des Hebels auf eine neue Art ab, in der man die erste Andeutung des Prin- 
zips der virtuellen Geschwindigkeiten gesehen hat. Roger Baco (1214— 1294) 
ist jedenfalls der bedeutendste Mann seiner Zeit, der mit vollem Bewußt- 
sein die Forderung ausspricht, die Erfahrung, das Experiment müsse zur 
Grundlage naturwissenschaftlicher Erkenntnis gemacht werden, ohne 
sie sei ein sicheres Wissen unmöglich. Obwohl er Aristoteles als einen 
Fürsten der Wissenschaft verehrt, so folgt er nicht immer seiner Meinung 
und entfernt sich oft von ihm, weil der von ihm gepflanzte Baum der 
Wissenschaft noch lange nicht alle Zweige getrieben, noch lange nicht 
alle Früchte gebracht habe. Eifrig wendet er sich gegen die vier Grundfehler, 
die den Fortschritt der Wissenschaft hindern: das Schwören auf eine 
unwürdige, hinfällige Autorität, die Macht der Gewohnheit, die Denk- 
weise der großen Masse, die Blindheit gegen die eigene Unwissenheit, 
And die Prahlerei mit der eigenen Weisheit. Die Mathematik ist ihm 
unentbehrlich, um zu einer richtigen Erkenntnis der Dinge zu gelangen; 
diese gewinnt man in der Naturwissenschaft jedoch nur, wenn man sie 
als „Scientia experimentalis‘““ handhabt. So wird Baco der Schöpfer des 
Begriffs Experimentalwissenschaft, von deren Vorzügen er besonders 
drei erwähnt: „Sie bestätigt die Resultate, die aus andern Wissenschaften 
bereits gewonnen sind, vor allem die aus der Mathematik; sie dringt bis 
auf den Grund und die Grenzen der Wissenschaft und sucht dort die herr- 
lichen Wahrheiten, die sonst durch keine Mittel zu erhalten sind; sie be- 
trachtet ihre Ergebnisse nicht in Hinsicht auf andere Wissenschaften, 
sondern genügt sich selbst und bezieht sich auf vergangene, gegenwärtige 
und zukünftige Dinge und auf die Beobachtung von herrlichen Natur- 
gesetzen, und darum ist sie die erste und die Königin aller Wissen- 
schaften.‘?2?)
	        
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