IV. Kapitel: Unterricht im Mittelalter. 73
verwiesen, auf die auch Siegmund Günther in seiner äußerst wertvollen Ge-
schichte des mathematischen Unterrichts im Mittelalter aufmerksam
macht. Wenn diese „philosophische Perle“ auch noch eine stark mittelalter-
liche Färbung hat, wie schon die Darstellung des Wissenschaftsgebäudes
durch einen siebenstöckigen Turm beweist, aus dessen einzelnen Stock-
werken die einzelnen Disziplinen, die sieben freien Künste, herausschauen,
so gibt sie doch ein getreues Bild dessen, was damals schulmäßig vor-
getragen wurde. Von den Büchern dieser Realenzyklopädie ist das vierte
dem Rechnen, das fünfte der Musik gewidmet. Das sechste enthält die
spekulative und die praktische Geometrie, das siebente die Astronomie,
die mathematische Erdkunde und die Astrologie. Das neunte bildet
eine Art Geophysik, in der Tau, Hagel, Regen, die optischen Erscheinungen
der Atmosphäre, darunter Milchstraße und Kometen, die Entstehung der
Quellen, Erdbeben, der Horror vacui, die Gezeiten des Meeres und die
Anfangsgründe der Chemie in buntem Durcheinander besprochen werden.
Auch des zehnten Buches zweiter Teil sei hier erwähnt, der eine Zeichnung
des Auges bringt und eine Art physiologischer Optik enthält.
Das erste Examen, das der Studierende des Mittelalters bei der Artisten-
Fakultät abzulegen hatte, war das Bakkalaureat, das etwa unserer heutigen
Reifeprüfung entspricht. Es ist daher von Interesse, den Anforderungen,
die im Bakkalaureatsexamen an die Prüflinge gestellt wurden, nachzu-
spüren. Manche der deutschen Universitäten, wie z. B. Heidelberg, Köln
und Tübingen, schreiben für diese Prüfung überhaupt keine mathemati-
schen Vorlesungen vor; weitaus die meisten, z. B. Prag, Leipzig, Erfurt,
Basel begnügen sich mit der Vorschrift, daß man eine Vorlesung, sphaera
materialis, gehört haben müsse. Freiburg verlangt außerdem noch die über
den Algorithmus, Wien und Ingolstadt als dritte noch die über das erste
Buch Euklid, das bekanntlich mit dem pythagoreischen Lehrsatz und dessen
Umkehrung abschließt. Nur Wien ‚fügt hinzu: aut libri aequivalentes,
Allzugroß scheint hiernach das Maß der Anforderungen an mathematische
Kenntnis bei diesem mittelalterlichen Abituirentenexamen nicht gewesen
zu sein. Auch wurden einer Notiz bei den Prager Prüfungsvorschriften
zufolge: „In tractatulo tandem sphaerae omnes ante prandium absolvent
responsa‘ die Prüfung der Kandidaten in der Mathematik nur oberfläch-
lich gehandhabt, da die Prüflinge nicht wie in den anderen Fächern einzeln
gefragt wurden, sondern alle gleichzeitig, damit dies Examen in einem
summarischen Verfahren noch kurz vorm Essen erledigt werden konnte.
Könnte man nicht versucht sein zu glauben, daß es sich nicht um ein
Prager Bakkalaureatsexamen um 1450 sondern um ein 400 Jahre später
abgehaltenes Abiturientenexamen an einem unserer Gymnasien handelt?
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