Full text: Geschichte des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts (1. Band)

I. Kapitel: Wissenschaftliches Leben im Jahrhundert der Reformation. 75 
Humanisten die führende Stellung in dieser Bewegung. Der Glanz des 
großen humanistischen Dreigestirns Reuchlin, Erasmus, Melanchthon 
leuchtete weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Zu der Zeit, als 
Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schloßkirche in Wittenberg schlug, 
nahm Erasmus im intellektuellen Reiche des Humanismus unangefochten 
die erste Stelle ein. Er stand mit dem Papst Leo X. und vielen Kardinälen 
in vertraulichem Briefwechsel; nicht nur der deutsche Kaiser und deutsche 
Reichsfürsten, auch die Könige von England und Frankreich wandten sich 
in Fragen der Bildung und des Unterrichts an ihn um Rat und überhäuften 
ihn mit Ehrenbezeigungen und Gnadenbeweisen. In seiner Gelehrtenstube 
zu Basel liefen die Fäden einer das ganze internationale Reich des Humanis- 
mus umspannenden Korrespondenz zusammen. Kein Wunder, daß er sich 
manchmal ein König dünkte, mächtiger als die Monarchen Europas. Allein 
nur zu bald sollte er des inne werden, wie weit er davon entfernt war, ein 
Herrscher im Reiche der Geister zu sein. Nicht ein halbes Jahrzehnt später, 
und keiner achtete noch sehr auf Erasmus, der, vom Zeitgeist beiseite 
geschoben, mit verständnislosem, etwas neidischem Staunen zusehen 
mußte, wie Luther und die Humanisten in dessen Umgebung im Mittel- 
punkte des europäischen Interesses standen. Erasmus kannte die Schäden 
der Kirche sehr wohl, war durchdrungen von der Notwendigkeit, sie ab- 
zustellen, und arbeitete in seiner Weise nicht minder eifrig als Luther an 
einer Reform. Allein er sah in der Vertiefung der klassischen Studien, in 
der Verfeinerung der Bildung und des Geschmacks auf der Grundlage einer 
eingehenden Beschäftigung mit der Sprache und den Kulturschätzen 
des klassischen Altertums das einzige Mittel zum Heile, das langsam aber 
unfehlbar zum Ziele führen würde. Er wollte auf dem friedlichen Wege der 
Evolution erreichen, was entsprechend dem im Grunde seines Wesens 
doch revolutionären Charakter des Humanismus nur auf dem gewaltsamen 
Wege der Revolution erreichbar war. Diese revolutionäre Tendenz des 
Humanismus kam in jener kritischen Zeit am Ausgange des 15. und am 
Anfange des 16. Jahrhunderts in dreifacher Weise zum Durchbruch: in 
einer Umwälzung des Lehrbetriebes der Universitäten, in der die Grund- 
vesten der Macht des Papstes und der Kirche erschütternden Reformation 
und in dem Sturze der Weltanschauung, die fast zwei Jahrtausende unan- 
gefochten geherrscht hatte. 
Die erste dieser Umwälzungen bestand in einer humanistischen Um- 
gestaltung der Universitätsvorlesungen, namentlich der Artistenfakultät, 
und war schon fast beendet, als Luther den Kampf gegen den Ablaßhandel 
aufnahm. Der mittelalterliche Vorlesungszyklus wurde beseitigt, das 
mittelalterliche Latein wurde durch das klassische Latein als Vorlesungs- 
sprache ersetzt, eifrig wurde neben dem klassischen Latein das Studium des 
Griechischen gepflegt, gute lateinische Klassiker und vor allem auch die
	        
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