I. Kapitel: Wissenschaftliches Leben im Jahrhundert der Reformation. 77
dämpfender Völkerbrand, der Stuhl Petri wankte, und nach mehr als
hundertjährigem Kampfe war das Machtgebiet der römischen Kirche um
diejenigen Reiche verringert, deren Bevölkerung vorwiegend germa-
nischer Abkunft war. Zum zweiten Male hatten die Germanen im Kampfe
mit Rom obgesiegt. Dieser Kampf mit Rom drängte in der Reformations-
zeit schließlich fast alle anderen wissenschaftlichen Interessen des Humanis-
mus in den Hintergrund und absorbierte hüben wie drüben so viele intellek-
tuelle Kräfte, daß Paulsen in seiner Geschichte des gelehrten Unterrichts
wohl mit Recht sagen kann, der Humanismus sei an der Reformation zu-
grunde gegangen. Richtiger dürfte es vielleicht heißen, daß der Humanis-
mus mit der Reformation seine kulturgeschichtliche Aufgabe erfüllt hatte.
In den obigen Bemerkungen liegt auch die Erklärung dafür, daß die
Mathematik und die Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert nicht die-
jenigen Fortschritte machten, die man nach dem Aufschwung im 15. Jahr-
hundert zu erwarten berechtigt gewesen wäre, und daß der bedeutendste
Fortschritt, die dritte umwälzende Tat des Humanismus, die Beseitigung
der geozentrischen und die Begründung der heliozentrischen Weltanschau-
ung, verhältnismäßig geringes Aufsehen erregte und anfangs durchaus nicht
die Beachtung fand, die sie verdiente. Daß tatsächlich das Weltsystem
des Koppernikus als eine Frucht des Humanismus aufzufassen ist, geht
daraus hervor, daß jener erst durch das Studium der Alten die Anregung
zu seinem Gedanken erhalten hat. Bei Cicero und Plutarch fand er die
Angaben, daß Niketas und andere der Meinung gewesen seien, die Erde
bewege sich. Bei weiterem Forschen traf er auf die von Heraklit und Ari-
starchus von Samos vertretene Ansicht, daß die scheinbare tägliche Be-
wegung der Gestirne durch eine Achsendrehung der Erde von West nach
Ost zu erklären sei. Fünfundzwanzig Jahre unendlich sorgfältiger Arbeit
verwandte Koppernikus darauf, seine Theorie auszuarbeiten und durch
jahrelange Beobachtungen zu prüfen und zu stützen. Als er sie endlich 1543
unter dem Titel: De revolutionibus orbium coelestium libri VI veröffentlichte,
hatte sie schon 13 Jahre vollendet in seinem Schreibtisch gelegen. Nicht
die Sorge, die Kirche könne ein Ärgernis an seiner Lehre nehmen, sondern
lediglich Bescheidenheit und die Befürchtung, daß man ihn wegen der Neuheit
und scheinbaren Widersinnigkeit seiner Meinung verachten werde, hatte ihn
bewogen, mit der Veröffentlichung so lange zu zögern. Der Gedanke, seine
Weltanschauung könne der Autorität des Papstes schaden, lag ihm so fern,
daß er sein Buch in der Vorrede direkt dem Papste widmete und die Hoff-
nung aussprach, sein Buch könne der Kirche von einigem Nutzen sein!
Die Neuerung des Koppernikus fand bei den zeitgenössischen Astro-
nomen zunächst wenig Beachtung; sie brachte ihnen auch für ihre Haupt-
aufgabe, die rechnende Vorausbestimmung der Erscheinungen am ge-
stirnten Himmel kaum nennenswerte Erleichterungen. Wie wenig aber