Full text: Methodik des chemischen Unterrichts (4. Band)

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Allgemeiner Teil. 
eine Versuchsreihe die Schüler so schnell und so ausgesprochen ermüdet, 
als gerade das ununterbrochene Titrieren. Diese Tatsache erscheint um 
so auffallender, als bekanntlich der Praktiker mit besonderer Vorliebe 
titriert, sobald seine Lösungen bereitstehen und seine Apparate sich in 
Ordnung befinden. Die an sich rein mechanische Tätigkeit erfordert eben, 
damit sie wirklich eine gewisse behagliche Befriedigung geben soll, auch 
unzweifelhaft eine ziemliche Übung im schnellen Ablesen, im richtigen 
Abschätzen des Versuchsergebnisses, welche die Schüler bei nur einmal 
wöchentlich stattfindender Arbeit nicht erwerben können. Der langsame 
Fortschritt, der ja sicher bei jedem einzelnen von ihnen zu verzeichnen 
ist, macht sich für den Schüler selbst nicht bemerkbar; hierdurch wird ihm 
die ganze Titrierarbeit zur Last. Versucht man, um das Interesse wieder 
zu heben, einen neuen Zweig der Maßanalyse, etwa die Oxydimetrie, so 
macht man auch damit nur wenig günstige Erfahrungen. Die Schüler sehen 
den Oxydationsprozeß lediglich daran, daß das Sauerstoff abgebende Mittel, 
das Kaliumpermanganat, seine Farbe verliert; unsichtbar ist ihnen dagegen 
der ganze Oxydationsprozeß selber. Das oxydierte Produkt ist in der ver- 
dünnten Lösung ebensowenig durch Färbung oder andere Eigenschaften 
zu sehen, wie vorhin die unoxydierte Substanz. Der ganze Versuch ist zu 
wenig sinnenfällig, ist zu „abstrakt‘“ und bietet dem Durchschnittsschüler 
zu wenig an positiven Erscheinungen, als daß er ihm sympathisch wird. 
Aus diesem Grunde erscheint es rätlich, den ganzen maßanalytischen Kurs 
auf die wenigen eben genannten Beispiele zu beschränken. 
by Die Stellung des Versuchs im Unterricht. 
Allen modernen Lehrverfahren der Naturwissenschaften ist gemeinsam, 
daß sıe sich auf der Grundlage des Tatsachenmaterials aufbauen. Die ver- 
wickelten Vorgänge des Erfahrungslebens können für den Verlauf chemischer 
Prozesse nur ganz ausnahmsweise ein klares Bild liefern, auch ist ihr Ein- 
treffen jederzeit ein mehr oder weniger zufälliges. Die künstlich hervor- 
gerufene Erscheinung, welche sich nach dem Wunsch des Untersuchenden 
in einem bestimmten Zusammenhang und unter möglichst eindeutigen Be- 
dingungen vollzieht, ist der Versuch. 
Entsprechend der Neuheit des Lehrfaches mußte noch vor zwanzig 
Jahren gelegentlich die Notwendigkeit des Versuchs im chemischen 
Unterricht ausdrücklich betont werden. Heute gilt das Experimentieren 
als etwas Selbstverständliches. Die moderne Methodik ist bereits auf einem 
weit höheren Standpunkte angekommen.: das Wo und das Wie, die Stel- 
lung des Experiments wird jetzt theoretisch und praktisch unter- 
sucht. Früher brachte man den Versuch grundsätzlich nur an die erste 
Stelle und leitete alles aus ihm ab, weil man sich vor Deduktionen fürchtete, 
Heute freuen wir uns mit unseren Schülern, wenn diese ihr Erfahrungs-
	        
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