Einleitung.
treten unerwünschter „Nebenerscheinungen‘“ verhinderte. Ergebnisse
physikalischer und chemischer Versuche sind darum lediglich die weniger
getrübten Äußerungen von Naturgesetzen, nicht aber die einzigen Äuße-
rungen dieser Gesetze überhaupt. Je nach der Art der Versuchsanordnung
Jäßt sich durch den Versuch mehr eine chemische oder mehr eine physi-
kalische Tatsache einwandsfrei ermitteln.
Gleich der Physik geht also auch die Chemie bei allen ihren Unter-
suchungen nur von der sinnlichen Beobachtung aus. Auf dieser
baut sie das theoretische Lehrgebäude nach streng mathematischen Ge-
setzen auf. Wie der Mathematiker durch Interpolation richtig entwickelter
Reihen die noch fehlenden Zwischenglieder errechnen kann, so vermag der
Chemiker das Vorhandensein und die Eigenschaften zuvor noch nie ge-
sehener Natur- und Kunstprodukte im voraus zu bestimmen. Durch
passend gewählte Vorrichtungen und geeignete Versuchsbedingungen ge-
lingt es ihm dann, das gewünschte Produkt herzustellen. Solche errech-
neten, erst theoretisch, dann praktisch konstruierten chemischen Substanzen
sind das Arbeits- und Erwerbsmaterial der chemischen Großindustrie. Das
Geheimnis, warum gerade die deutsche chemische Industrie derjenigen
aller übrigen Länder der Erde so außerordentlich überlegen ist, beruht
z. B. nur auf diesem streng systematischen Zusammenarbeiten von theo-
retischer und praktischer Forschung. Interpolationen auf dem Gebiete
der Chemie in mathematischem Sinne sind erwünscht und notwendig.
Extrapolationen über die Grenze unseres exakten Wissens hinaus führen
in das Gebiet der philosophischen Spekulation. Sie sind für die chemische
Wissenschaft als solche ein ebenso berechtigtes Forschungsmittel nach
den letzten Endzielen aller Dinge wie für jede andere Wissenschaft auch.
Von der Physik, der älteren Schwesterwissenschaft, unterscheidet sich
die Chemie weniger durch die Auswahl der Materialien als durch die Rich-
tung und Methode des Forschens. Ein Stück Eisen ist für den Physiker
ein Körper, welcher durch Härte, Zähigkeit, Gewicht, Schmelzpunkt, durch
eigenartiges Verhalten gegen Magnetismus und elektrische Kräfte gekenn-
zeichnet ist. Der Chemiker dagegen untersucht die Veränderungen, welche
die Substanz des Eisens erleidet, wenn sie mit Luft oder anderen Agentien
zusammenkommt. Er prüft die Eigenschaften der entstehenden Verbin-
dungen sowohl, wie auch diejenigen des Eisens selber, welches in diesen
Verbindungen enthalten ist, um daraus theoretisch wertvolle Schlüsse zu
ziehen. Er untersucht die Umwandlungen aus einer dieser Verbindungen
in beliebige andere, er sucht diese Umwandlungsprodukte wieder zurück
zu verwandeln in die einfacheren Ausgangsmaterialien und prüft, ob die
Physik, ob Technik, Arzneimittellehre oder irgendein anderer Zweig der
„angewandten Chemie‘ Gebrauch machen kann von den neu entdeckten
Beziehungen, von den neuen Verbindungen und Legierungen, oder ob viel-