Full text: Methodik des chemischen Unterrichts (4. Band)

Allgemeiner Teil. 
Gegen den chemischen Unterricht hat man eingewendet, daß wir ja 
keine Sinnesorgane besitzen, welche uns die chemischen Vorgänge unmittel- 
bar zum Bewußtsein bringen. Aus der Änderung der Farbe, dem Geruch, 
der Ausstrahlung von Wärme und Licht folgern wir erst, daß sich unsicht- 
bare Vorgänge vollzogen haben müssen, als deren Folge die mit Auge, 
Nase und Hand wahrgenommenen Veränderungen in die Erscheinung treten 
konnten. Auch soll die Fülle der anscheinend zusammenhanglosen Einzel- 
ergebnisse die Chemie zu einem wenig geeigneten Lehrgegenstand machen. 
Aber gerade darin, daß dem Schüler jeder einzelne chemische Vorgang zwar 
erkennbar ist, aber erst auf Grund von Überlegungen und logischen Schlüssen 
zum Bewußtsein kommt und verständlich wird, liegt in formaler Hinsicht 
die Bedeutung der Chemie für die Schule. Die erste Forderung, welche wir 
an einen wirklich „geschulten‘“ Menschen stellen, ist, daß er denken kann, 
mag er nun seine Schulung auf einer höheren Lehranstalt oder im praktischen 
Leben geholt haben. Auch der chemische Unterricht vermag diese Schulung 
zu verleihen. Ununterbrochen geht die Chemie von der einzelnen Anschauung 
aus, bildet aus den Vorgängen die Vorstellungen und Begriffe, folgert und 
schließt, und prüft schließlich die Ergebnisse der Denkoperationen immer 
und immer wieder auf experimentellem Wege, also durch unmittelbare 
Anschauung. Indem sie auf induktivem Wege die Erscheinungen ordnet 
und übersichtlich gestaltet, ermöglicht sie dadurch auch eine Forschung 
auf dem Wege der Deduktion. Die auf Grund von Erscheinungen logisch 
aufgebauten Schlüsse werden zurück bis auf ihre Ausgangspunkte verfolgt, 
und von hier noch weiter, bis auf die letzten mutmaßlichen Ursachen der 
Erscheinung, bis auf die Hypothese. Diese dient als Grundlage neuer 
Überlegung und experimenteller Untersuchungen. Indem also der chemische 
Unterricht immer und in jeder Unterrichtsstunde von neuem die Denk- 
operationen des täglichen Lebens übt, indem er die Phantasie anregt und 
doch zugleich wieder in den gebührenden Schranken hält, ist er für die rein 
formale Ausbildung des Schülers von höchstem Wert. 
„Die Schüler lernen hierbei, eine richtige Verallgemeinerung zu bilden, 
zu einer gegebenen Wirkung die wahrscheinliche Ursache, zu einem be- 
stimmten Zweck das entsprechende Mittel, von gewissen Zeichen die richtige 
Deutung zu finden und hierbei überall die nötige Vorsicht zu gebrauchen. 
Indem so die Schüler auf praktischem Wege in die Lehren der Induktion 
eingeführt werden, tritt der chemische Unterricht seinerseits in den Dienst 
der Induktion und entspricht damit einer Forderung, die mit Recht an ihn, 
wie an jeden anderen Unterricht gestellt wird. Aber kein anderer Unter- 
richtsgegenstand ist zur Übung der Schüler im induktiven Denken in gleicher 
Weise wie die Chemie geeignet. Der der Beobachtung unterliegende Stoff 
ist einfach, die Umstände können durch leicht ausführbare Versuche auf 
ihre Bedeutung hin geprüft und irrige Ansichten dadurch leicht berichtigt
	        
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