Allgemeiner Teil.
I. Wesen und Bedeutung der Erdkunde.
1. Verschiedene Auffassungen vom Wesen der wissenschaftlichen Erdkunde.
Weit zurück bis in die Blüte der ältesten Kulturvölker reichen die Wurzeln
erdkundlicher Forschung — und doch ist die Erdkunde? als festumrissenes
Gebiet menschlicher Geistesarbeit ein recht junges Gebilde. Schwankend,
nach allen Seiten hin verfließend waren ihre Grenzen; nicht einmal in die
beiden Häuptabteilungen des Systems der Wissenschaften konnte sie zweifels-
frei eingeordnet werden. Auf der Scheide zwischen Natur- und Geisteswissen-
schaften stehend, hat die Erdkunde zwar von allen Seiten reiche Anregungen
erhalten, dabei aber lange Zeit versäumt, sich selbst ein fest bestimmtes
Arbeitsprogramm zu schaffen. So blieb sie zunächst eine Magd bald der einen,
bald der anderen Wissenschaft, ein Aschenbrödel in der Achtung der Gelehrten-
zunft, ein ungern gesehener Eindringling in der im philologischen Fahrwasser
segelnden höheren Schule. Erst das letzte Jahrhundert, in dem die Erdkunde
an den Universitäten Hausrecht erlangte, brachte ihr eine schärfere Ab-
grenzung und damit eine bessere Wesensbestimmung.
Wer die heutige Anschauung vom Wesen wissenschaftlicher Erdkunde klar
erfassen will, muß die Wandlungen in der Begriffsbestimmung historisch-
kritisch würdigen?,
Als der Alexandriner Eratosthenes (276—195 v. Chr.) zum ersten Male ver-
suchte, das länderkundliche Wissen der Antike zusammenzufassen, als Strabo
(68 v. bis 24 n. Chr.) seine 17 Bücher „Geographika“ schrieb; da waren bereits
die Keime für alle Hauptrichtungen erdkundlicher Betrachtungsweise vor-
handen, für die historische wie die physische, die allgemeine wie die länder-
kundliche. Aber bei allem Hochstande des geistigen Lebens mußte damals
die reine Reisebeschreibung die allgemeinen Probleme überwiegen, und auch
der vielseitige Plinius (23—79 n. Chr.) konnte im dritten bis sechsten Buche
seiner Historia naturalis nicht mehr geben als Aufzählungen über „situs,
' Wir ziehen den Namen „Erdkunde“ vor, nicht nur weil er deutsch ist, sondern auch
weil er gegenüber der „Beschreibung“ nach Ritter eine tiefere Auffassung des Zusammen-
hanges der Erscheinungen ausdrückt.
° Eine eingehende historisch-kritische Darstellung hat jüngst A. Leutenegger in seiner
Schrift gegeben: „Begriff, Stellung und Einteilung der Geographie“. Gotha 1922, ,
Wagner, Methodik des erdkundlichen Unterrichts. I. £