Naturschilderung.
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F, Naturschilderung,
So eindringlich die Wirkung eines guten Bildes ist, so zuverlässig es in der
Seele aller Schüler den gewünschten Abdruck erzeugt, so sınd ihm doch ge-
wisse Grenzen der Anwendbarkeit gezogen. Jedes Bild ist ein Ausschnitt in
estem Rahmen, wenn auch die geschulte Phantasie den Rahmen leicht
erweitert; es ist von einem festen Standpunkt aus aufgenommen, den der
Betrachter nicht zu verlassen vermag. Die Gegenstände sind in einem gewissen
Hintereinander aufgebaut; sie decken einander zum Teil, und doch möchte
der Beschauer oft gern einen Blick hinter die Kulissen werfen. Ferner stellt
das Bild einen einzigen Zustand dar, sei es freundlicher Sonnenschein oder
düstere Gewitterstimmung, sei es Sommer oder Winter. Für viele Land-
schaften mag dies unwesentlich sei; bei anderen liegt das Wesen aber gerade
im Wechsel. So genügt ein Bild nicht, um das Wesen der Steppe oder der
Tundra klarzulegen. Schließlich tritt im Bilde jene Zutat stärk zurück, nach
der der kindliche Geist besonders verlangt: die Handlung, das Leben. Und
das gibt der einzelne Ausschnitt nicht, weder räumlich, noch zeitlich; dazu ist
fortwährender Szenenwechsel nötig.
Hier tritt die Schilderung in die Lücke. Es gibt verschiedene Arten, das
Bild durch Worte zu ersetzen. Zunächst das einfache Übersetzen der Bildein-
drücke in die beschreibende Redeform, z. B. die Beschreibung einer Kokos-
palme nach Wuchs, Blattform, Blütenbau, einer Koralleninsel nach Größe
Form, Baustoff. Aber das ist noch keine Schilderung. Hierzu gehört, daß wir
nicht an der Form, nicht am Einzeldinge haften, sondern daß wir die Grup-
pierung, die Farben und Stimmungen berücksichtigen, daß wir dem Ganzen
Leben einhauchen, indem wir uns losmachen von dem Rahmen des Raumes
und der Zeiteinheit. Und schließlich gehört dazu auch eine zusammenhängende
stilistisch ausgefeilte Darstellung. Erst dann ist die Schilderung nicht nur ein
Ersatz für das Bild, sondern mehr. „Diese geographische Schilderung ist nicht
eine rein wissenschaftliche, sondern zu einem guten Teile eine künstlerische
Aufgabe. Sie kann ein Schmuck sein, so gut wie die Bilder, die wir zur Vervoll-
ständigung der Beschreibung in den Geographiebüchern geben; aber gleich
ihnen gehört sie zur Sache“ (Ratzel*).
Es ist ein weiter Weg von der Schilderung, die wir für unsere Sextaner Zu-
rechtbauen, bis zu den klassischen Arbeiten eines Humboldt oder Goethe, die
sich an den Erfahrungskreis hochgebildeter Menschen wenden. Und die Er-
kenntnis dieses durchgreifenden Unterschiedes ist für den Pädagogen von
größter Bedeutung. Um sie zu erlangen, müssen wir zu einer Analyse der
seelischen Vorgänge während der Schilderung schreiten. Nehmen
wir den einfachsten Fall, der Lehrer schildere eine Gegend, die er selbst genau
kennt. In seiner Seele baut sich eine ganz bestimmte Landschaft auf, die er
ı F, Ratzel, Über Naturschilderung. 3. Aufl. — Volksausgabe. München und Berlin,
Oldenbourg 1911.