Die Kunst des Schilderns.
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erwandert hat, wird Landschaften schildern lernen. Aber das Wandern im
rein sportlichen Sinne tut’s nicht, sondern erst das andauernde bewußte,
wissenschaftliche und künstlerische Sehen, das Analysieren der
sonst zu flüchtigen Gesamtbilder. Nıcht die Fülle des Gesehenen, sondern das
planmäßige Aufsuchen des geographisch Wichtigen ist dıe Hauptsache, Man
lese z. B. beı Passarge} die lange Liste dessen, was ein der Geographie Be-
flissener alles sehen soll; man studiere v. Richthofens Führer für Forschungs-
reisende oder Neumayers Anleitungen. Und über dem Zerfasern der Eindrücke
vergesse man nicht das Zusammenfassen, die künstlerische Synthese, die Har-
monie der Farben und Stimmungen! Das ist jene Stufenfolge von Sehen,
Beobachten und Schauen, die Ratzel? so trefflich kennzeichnet.
Zweitens gewöhne man sich, die Beobachtungsergebnisse sofort
sprachlich, also schriftlich festzuhalten. Das Reisetagebuch ist
die Fundgrube der farbenechtesten, lebensfrischesten Schilderungen. Jeder
Eindruck verblaßt, namentlich auf größeren Wanderungen, auf denen leicht
eine gewisse Überfütterung des Geistes eintritt. Dann ist es schwer, Einzel-
heiten in der Landschaft und in der Stimmung—in der inneren wie äußeren —
nach Tagen oder gar erst am Ende der Reise treu wiederzugeben. Gerade die
besten Vergleiche, die brauchbarsten Verknüpfungen mit dem vorhandenen
Seeleninhalt kommen oft blitzartig während des Schauens und verschwinden
dann — kaum recht ins volle Bewußtsein gekommen — für immer. Dann
bleiben nur zu leicht jene blassen Redensarten vom „gewaltigen Berghinter-
grund‘, vom „lieblichen Seespiegel‘“ oder dem „rauschenden Walde‘‘, mit
denen unterrichtlich nichts anzufangen ist. „Erinnern ist kein reines Spiegeln,
es ist ein Verschieben, Vermischen, Vereinigen, Durchscheinenlassen und Ver-
kleinern ... Die ersten Eindrücke eines scharfblickenden Beobachters sind
überhaupt tiefer und ursprünglicher als die späteren, reflektierten; es kommt
darauf an, sie nicht verwischen und verblassen zu lassen‘ (Ratzel).
Die Zufälligkeiten der Reise geben nicht alltäglich Gelegenheit zu wirklich
ausführlichen Schilderungen. „Auch die Naturschilderungen gelingen nur in
einzelnen Momenten fruchtbarer Stimmung und Gelegenheit.“ Deshalb
müssen oft Stichworte die flüchtigen Eindrücke festhalten, bis ein Ruhetag
sie zu verarbeiten gestattet und die Einzelheiten in planmäßiger Synthese auf-
gebaut werden. Was im Eingange des Abschnittes gesagt wurde, gilt auch hier;
nur ist das Rezept leichter anzuwenden als während des rasch weiterschreiten-
den Vortrages: Man überlege sorgfältig, welche Einzelheiten nötig sind, um
ein lebenswahres Bild zu geben, und ordne sie so an, daß sich das Gemälde
vom allgemeinen zum besonderen allmählich entwickle. Es gibt keine bessere
Form für diese mehr zusammenfassende Tagebucharbeit als Reisebriefe.,
Denn unter dem Eindruck, daß wir einer bestimmten Persönlichkeit etwas
ı S, Passarge, Physiologische Morphologie. Hamburg, Friederichsen 1912,
2 F. Ratzel, Über Naturschilderung. S. 217 u. f.