12
Wesen der Erdkunde.
schwung oder einen staatlichen Niedergang betreffen: sie alle nach den
Gründen ihrer Entstehung in naturwissenschaftlich,sachlicher Art zu be-
trachten sowie in gegenseitige Verbindung miteinander und mit der Ent-
wicklung der Menschheit als Ganzes zu bringen, darin sieht Ratzel die End-
aufgabe der Geographie. Sie ist ihm in Wahrheit die Wissenschaft von
der natürlichen Gesamtausstattung der Erdräume mit be-
sonderer Rücksicht auf die natürlichen Daseinsbedingungen
des Menschen‘, Wie Ritter widmet er seine Kraft „gutenteils dem ur-
alten Problem der Wechselbeziehungen zwischen Natur und Menschheit,
Schauplatz und Geschichte‘; aber er ist mehr naturwissenschaftlich ge-
gründet, baut mehr auf eigenen Erfahrungen von Land und Volk auf. Und
es ist bezeichnend, daß gerade er als ursprünglich reiner Naturforscher
(Zoolog) die menschliche, kulturgeographische Seite der Erdkunde am
stärksten betonte.
Ratzels Ideen sind namentlich durch Ofto Schlüter? fortgebildet worden,
Er findet einen methodologischen Hauptfehler darin, daß man in der phy-
sischen Erdkunde einen Gegenstand, die Erdoberfläche, erforscht, in der
Geographie des Menschen aber ein Ursachenverhältnis zu enthüllen
sucht. Wir müssen, um folgerichtig zu seın, auch dıe Anthropogeographie als
Gegenstandswissenschaft betreiben. „Wir müssen auch in der Geographie
des Menschen das aufführen, was selbst schon als Teil der Erdoberfläche in
der erweiterten Auffassung der Geographie angesehen werden kann und nicht
nur zu ihr in einer Beziehung der Abhängigkeit oder des örtlich verschiedenen
Vorkommens steht.‘ Das sind aber vor allem die Spuren, die die mensch-
liche Tätigkeit in der Landschaft hinterläßt: die Siedelungen, die Flächen der
Bodenbewirtschaftung und die Verkehrswege. Diesen Teil der Erdkunde
nennt Schlüter Kulturgeographie. Grundlage der Kulturgeographie ist
eine Betrachtung der Urlandschaft, d. h. des Landschaftsbildes, wie es sich
ohne Beeinflussung durch den Menschen darbieten würde. Daran schließt
sich dıe Betrachtung des Menschen selbst, der ebenso wie Pflanzen und
Tiere zum erdkundlichen Forschungsgegenstand wird, und das ergibt eine
Bevölkerungsgeographie, Rechnet man den Menschen als einen Be-
standteil der sichtbaren, greifbaren Erdoberfläche, so fällt alles rein Geistige
aus der Betrachtung fort. So sind nach Schlüter die Sprachen, die
! Hiermit deckt sich etwa auch Ludwig Neumanns Erklärung der Geographie „als der
Wissenschaft von der Lage, Bewegung, Größe, Gestalt und Belebung der Erdoberfläche
an sich und in Beziehung auf den Menschen“, (L. Neumann, Die methodischen Fragen
in der Geographie. Geogr. Zeitschr. 1896.)
* Otto Schlüter, Die Ziele der Geographie des Menschen, München, Oldenbourg 1906.
— Ders., Über das Verhältnis von Natur und Mensch in der Anthropogeographie. Verh.
d. 16. Deutsch. Geogr.-Tags in Nürnberg 1907. — Ders., Die Stellung der Geographie des
Menschen in der erdkundlichen Wissenschaft. (Geogr. Abende im Zentralinst. f. Erz.
u. Unt.). Berlin 1919,