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Wesen der Erdkunde.
1. Der Gesichtspunkt der Lage; alle Erscheinungen werden auf eine be-
stimmte Stelle der Erdoberfläche bezogen, auf einen Erdteil, eine Land:
schaft, eine Örtlichkeit, daher der Name Länderkunde.
2. Der Gesichtspunkt der ursächlichen Bedingtheit; das gleichzeitige
Auftreten verschiedener Erscheinungen an einer Stelle der Erdoberfläche
muß auf die ursächlichen Zusammenhänge zurückgeführt werden. ;
„Den Zusammenhang aller an einem Orte vereinigten Erscheinungen von
Ort zu Ort aufzufassen und im Überblicke auf die Erde zu verstehen, ist die
Aufgabe der Geographie. Man kann sich ihren Inhalt als eine Raumfigur
vorstellen, deren Grundfläche die Erdoberfläche ist, und in der die ver-
schiedenen Naturreiche und ihre Kategorien schichtenweise übereinander
liegen.‘ Die Erdkunde ist weder Natur- noch Geisteswissenschaft,
sondern beides zugleich; denn Natur und Mensch gehören in so enger Ver-
bindung zur Eigenart der Länder, daß sie nicht voneinander getrennt werden
können.
Das eigentliche Gebiet der Geographie ist die Gegenwart; will sie in die
Vergangenheit zurückgehen, so kann sie immer nur gleichsam einen hori-
zontalen, d. h. auf einen bestimmten Zeitpunkt beschränkten Durchschnitt
durch die Wirklichkeit legen. Da die Festlegung der Raumverhältnisse an
sich, der Entfernungen, Formen, Größen, in Kulturländern großenteils durch
besondere staatliche Institute ausgeführt wird, ist heute die Hauptaufgabe
der Geographie zweifellos die Beobachtung des Inhalts der Erdoberfläche.
Aber Geographie ist deshalb noch nicht die Wissenschaft von der örtlichen
Verteilung der verschiedenen Objekte (z. B. einer Tiergattung), sondern von
der dinglichen Erfüllung der Räume. „Geographisch ist eine Tat-
sache immer dann und nur dann, wenn und insofern sie örtliche Verschieden-
heiten zeigt und wenn und insofern diese örtlichen Verschiedenheiten mit den
örtlichen Verschiedenheiten anderer Tatsachenreihen als Ursachen oder
Wirkungen in ursächlichem Zusammenhang stehen.“
Ist die Länderkunde im engeren Sinne der Kern der erdkundlichen Wissen-
schaft, so muß auch die allgemeine Erdkunde mit den Aufgaben der be-
sonderen unmittelbar zusammenhängen. „Die allgemeine Geographie darf
daher keine allgemeine Erdkunde, sondern nur eine allgemeine ver-
gleichende Länderkunde sein, Ihre Aufgabe kann nicht darin bestehen,
die feste Erdrinde, die Meere, die Lufthülle, die Pflanzen- und Tierwelt und
den Menschen überhaupt zu erforschen, sondern nur darin, ihre Verschieden-
rung der Geographie: „Die Wissenschaft von der Macht des Raumes im Erd-
Planeten, nachgewiesen an der örtlichen Verschiedenheit seiner dinglichen
Erfüllung.“ Das Wörtlein „Wo“ ist die Grundfrage der Geographie, aus der alles, was
sie treibt, lehrt und lernt, erst Sinn, Richtung und Bedeutung empfängt. Und die Gesamt-
wissenschaft des „Wo“, die Choristik, gliedert sich nach ihren immer höher aufsteigen-
den Aufgaben in Chorographie, Chorologie und Chorosophie.