Full text: Allgemeiner Teil (6. Band, 1. Teil)

24 Beziehungen der Erdkunde zu den Nachbarwissenschaften. 
geographischer Oberflächenverhältnisse ableiten, da sind wir mitten im Ar- 
beitsgebiet. der Paläogeographie.‘“ ‚Indem: die Paläogeographie. eine Ver- 
einigung tektonischer, petrographischer, stratigraphischer, paläontologischer, 
viologischer, tiergeographischer, meteorologischer,. hydrologischer, physi- 
kalisch-chemischer. und. astronomischer Gedankengänge bedeutet und die 
heutigen erdgeschichtlichen Zustände und Vorgänge vergleichsweise auf die 
vorweltlichen anwendet, begreift sie wesentliche Teile: mehrerer ‚anderer 
Disziplinen unter eigenen Gesichtspunkten in sich und vereinigt jene zu einem 
einheitlichen Lehrgebäude.‘‘ Wir werden nach dieser Erklärung nicht an- 
stehen, der Paläogeographie den Rang einer selbständigen Hilfswissenschaft 
der Erdkunde zuzuerkennen, die zwar in ihren Endergebnissen geographisch ist, 
in ihrer Arbeitsweise aber vielmehr der Geologie im weitesten Sinne zugehört. 
Man könnte auch die jetzt viel besprochene und umstrittene Physio- 
graphie von W. M. Davis? als eine Paläogeographie auffassen; denn indem 
sie die „Zyklentheorie‘“ ausbaut, indem sie von verschiedenem Alter der Ober- 
flächengebilde, von jugendlichen, reifen und greisenhaften Landschaften 
spricht, nähert sie sich der zeitlichen, geschichtlichen Auffassungsweise, wie 
sie der Paläogeographie eigen ist. Und doch sind tiefgehende: Unterschiede 
vorhanden. Der Altersbegriff nach Davis hat mit geologischem Alter nichts 
zu tun, sondern er bezeichnet nur Entwicklungszustände, die nicht nur durch 
verschieden lange Einwirkung der geologischen Kräfte bedingt sind, sondern 
außerdem durch allerhand andere Einflüsse, wie Klimaunterschiede, Gesteins- 
beschaffenheit usw. Der grundlegende Unterschied liegt aber auf methodisch- 
wissenschaftlichem Gebiete: Forscher wie Dacqu€ oder Arldt verfahren streng 
naturwissenschaftlich, das heißt hier induktiv, Davis hingegen .deduktiv. 
Seine Arbeitsweise verhält sich zu der der Geologie, wie: die theoretische 
Physik zur Experimentalphysik. Er konstruiert besondere. Fälle, die in der 
Natur nicht vorkommen, indem er die Kräfte einzeln wirken läßt. Die nach- 
trägliche Prüfung in der Natur‘ muß erweisen, 'ob ‘die Voraussetzungen 
richtig waren oder nicht. ‘Ob dieses deduktive Verfahren geeignet ist, unsere 
erdkundliche Arbeitsweise umgestaltend zu beeinflussen, das ist eine Frage; 
die im Zusammenhange unserer Grenzuntersuchungen nicht zu erörtern ist?, 
Nach Passarge ist die Physiographie nach Davis keine selbständige Wissen- 
schaft, sondern „ein Mittelding zwischen Morphologie und. Landschafts- 
geographie, in der die analytische Morphologie völlig eliminiert und der Geo- 
logie als Arbeitsfeld zugewiesen wird‘. 
' W.M. Davis und A. Rühl, Die erklärende Beschreibung der Landformen. Leipzig 1912. 
— W. M. Davis und G. Braun, Grundzüge der Physiogeographie. 2, Aufl. Leipzig 1915 
und 1918. — W. M. Davis und K. Östreich, Praktische Übungen in physischer Geo- 
graphie. Leipzig 1918. © 
? Vgl. S. Passarge, Physiologische Morphologie. Hamburg 1912. — P. Wagner, Physio- 
graphie oder physiologische Morphologie? Aus d. Nat. 1912/13, S. 93f.
	        
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