Full text: Zur Frage der Erziehung des künstlerischen Nachwuchses

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Forderung des Abgangszeugnisses einer neunklassigen höheren 
Lehranstalt für das Studium der Architektur viel weniger vom 
sachlichen Standpunkte erklärbar sein als vom gesellschaftlichen. 
Das deutsche Volk ist nun einmal eingeteilt in die „akademisch 
Gebildeten‘‘ und Nichtakademiker. Und jeder einzelne und jede 
Berufsgruppe ist heute mehr denn je darauf bedacht, zu der im 
hohen Ansehen stehenden Kaste der akademisch Gebildeten ge- 
zählt zu werden. Dazu ist aber zunächst die Abgangsprüfung einer 
höheren Schule unerläßlich. Für den zukünftigen Architekten 
bedeutet dies bei ausgesprochener Begabung — und solche muß 
vorausgesetzt werden — die Unterdrückung der Neigung zum 
Zeichnen und Gestalten bis zum 18. Jahre, eine Versäumnis, 
die sich gerade auf die bildungsfähigste Zeit des Menschen, die 
zwischen dem 14. und 20. Jahre, erstreckt. Es kommt dann 
weiter hinzu, daß auf der Hochschule die allereinfachsten Grund- 
lagen des Zeichnens, die gerade so elementar sind wie etwa 
die Fingerübungen beim Klavierspiel, in akademischem Gewande 
gelehrt werden. Nach beiden Richtungen hin ist eine unglück- 
liche Nachahmung der Ausbildung des Juristen, des Philologen, 
des Theologen bemerkbar, durch die für den Architekten das 
Beste versäumt und Versäumtes dann auf ungeeignete Weise 
nachgeholt zu werden versucht wird. Es wird eben häufig ver- 
gessen, daß Architektur Kunst ist. Künstlerische Betätigung ist 
etwas anderes als juristische, theologische oder philologische. 
Der künstlerische Kopf ist völlig anders organisiert als der des 
Juristen und Verwaltungsbeamten. Folglich kann auch die Aus- 
bildung des Künstlers nicht nach der des Juristen eingerichtet 
werden. Gerade die Architektur setzt heute die besten künst- 
lerischen Köpfe voraus. Es genügt nicht mehr, dem Bau- 
organismus historische Ausdrucksformen anzuheften, ein neuer 
Geist verlangt auf der Grundlage der gegen früher gänzlich 
veränderten Technik und Wirtschaft neue Gestaltungen und von 
einem höheren Standpunkte aus entwickelte Ausdrucksformen.
	        
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