Full text: Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichtswesens in Preußen

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nung und andeutende Normirung gefunden haben, so ist hiernach ebensowohl die Absicht der Ver— 
assungs-Urkunde, wie die Nothwendigkeit unzweifelhaft, daß das Unterrichts-Gesetz die geschicht⸗ 
siche Entwickelung, die faktischen Verhältnisse und unbestrittenen Bedürfnisse des Unterrichtswesens 
zu seinem Ausgangspunkt zu nehmen und dahin zu streben hat, daß seine Bestimmungen überall das 
virkliche Bedürfniß berücksichtigen, in allen Punkten ausführbar sind und den der Zeit und dem 
Bildungsstandpunkt, wie dem weiteren Bildungsbedürfniß der Nation entsprechenden Fortschritt re— 
präsentiren. Unerläßliche Voraussetzung wird dabei nur immer sein, daß keine Bestimmung des 
Unterrichtsgesetzes mit den in der Verfassungs-Urkunde niedergelegten Fundamentalsätzen in Wider— 
pruch steht. 
In Erwägung der nach diesen beiden Seiten hin vorhandenen Verpflichtung erscheint der 
Staatsregierung eine Abänderung der Verfassungs-Urkunde in zwei Punkten erforderlich, wenn das 
Unterrichtsgesetz dem vorhandenen Bedürfniß genügen und eine gedeihliche Weiterentwickelung des 
Unterrichtswesens in sichere Aussicht nehmen soll. 
Der vorliegende Entwurf des Unterrichtsgesetzes ist unter der Voraussetzung, daß diese Ab— 
inderungen der Verfassungs-Urkunde von der Landesvertretung genehmigt werden, ausgearbeitet 
vworden, 'und ist also die Ännahme des Gesetzentwurfs wegen Abänderung der Verfassungs-Urkunde 
Vorbedingung für den Erlaß des Unterrichtsgesetzes. 
Hiernach sind zuerst die Motive darzulegen, von welchen die Staatsregierung bei dem ersten 
Gesetzeutwurf, betreffend Abänderung der Versassungs-Urkunde, ausgegangen ist. 
1. Der Artikel 22 der Verfassungs-Urkunde lautet: 
„Unterricht zu ertheilen und Unterrichts-Anstalten zu gründen und zu leiten, steht 
Jedem frei, wenn er seine sittliche, wissenschaftliche und technische Befähigung den be— 
reffenden Staatsbehörden nachgewiesen hat.“ 
Es ist zunächst zu bemerken, daß hier nicht von Privatunterricht und Privatunterrichts⸗An⸗ 
stalten, den öffentlichen vom Staate und den Gemeinden errichteten Schulen gegenüber, die Rede 
st, sondern daß der Artikel im weitesten Sinne die Freigebung des Unterrichts 
überhaupt bei nachgewiesener sittlicher, wissenschaftlicher und technischer Befähigung anordnet. 
Derselbe sieht daher in einem für die praktische Ausführung schwer lösbaren Widerspruch mit dem 
ersten Alinea des Artikel 21, wonach dem Staate die Verpflichtung auferlegt ist, für die Bil— 
dung der Jugend durch öffentliche Schulen genügend zu sorgen, und mit dem ersten Alinea des 
Aridel 25, wonach die Gemeinden und ergänzungsweise der Staat für die Errichtung und Unter— 
haltung der öffentlichen Volksschulen diée Mittel aufzubringen haben. 
Eine derartige Freigebung des Unterrichts könnte folgerichtig nur in einem Staate eingeführt 
verden, in welchem kein Schulzwang besteht und wo es den Einzelnen gestattet ist, durch freiwillige 
Association, oder durch Benutzung dargebotenen Privatunterrichts sich die ihnen wünschenswerth er— 
scheinende Bildung zu verschaffen. Für Preußen besteht aber hinsichtlich der allgemeinen und uner— 
läßlichen Volksbilbung Schulzwang (Artikel 21 der Verfassungs-Urkunde, Alinea 2) und ist dem 
Staaie das Recht und die Pflicht zugesprochen, diese allgemeine Bildung durch ein bestimmtes In— 
stitut, die öffentliche Volksschule, die Bildung der Jugend überhaupt aber durch öffentliche Schulen 
u vermitteln. Wenn indessen auch das Gesetz von der Annahme ausgehen könnte und wollte, die 
jffentlichen, vom Staate eingerichteten Schulen bildeten in Preußen die Regel und Artikel 22 sei 
nur auf Privatlehrer und Privatschulen anzuwenden, so müßte doch in Folge dieses Artikels das 
etzt der Regierung gesetzlich zustehende Recht, zu beurtheilen, ob und wo eine Privatschule erfor— 
derlich und zulässig sei. und demnächst die Konzession zu deren Errichtung zu ertheilen, in Wegfall 
ommen. 
Eine derartige Unbeschränktheit des Privatunterrichtswesens würde an und für sich weniger 
Bedenken haben hinsichtlich derjenigen Lehr- und Unterrichts-Anstalten, welche höhere Bildungs⸗ 
wecke verfolgen, als die Volksschule, und in welchen alle diejenigen Berechtigungen und Ansprüche, 
welche sich auf gewisse Grade erlangter Bildung gründen, vom Ausfall besonderer Prüfungen ab— 
hängen, die zu organisiren und abzuhalten, somit auch als eine Schutzwehr gegen das Eindringen 
ungenügender oder verkehrter Bildung in den Staats- und öffentlichen Dienst zu benutzen, der 
Staat in der Hand hat. 
Es ist indessen nicht zu übersehen, daß der Staat in den von ihm eingerichteten und geleiteten 
höheren Unterrichtsanstalten noch andere und mindestens ebenso wichtige Zwecke zu verfolgen hat, 
als die Erzielung wissenschaftlicher und technischer Kenntnisse und Fertigkeiten, deren Vorhandensein 
20 
Gesetzentwurf, be⸗ 
reffend Abänderung 
des Artikel 22 und 
des letzten Alinea 
des Artikel 25 der 
Verfaffungs⸗Urkun⸗ 
de vom 31. Januar 
—1850.
	        
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