30
Lehrpläne und Lehrbetrieb.
Gymnasialklassen Mathematik und Naturwissenschaften zusammen die
gleiche Stundenzahl wie das Griechische und nur zwei Stunden weniger
als das Lateinische erhielten. Daß die Kräfte der Schüler durch diese
Anordnung äußerlich zersplittert wurden, war schon schlimm; gefähr-
licher aber war es, daß ihre Interessen auch innerlich von dem ab-
gelenkt wurden, was nun ein für allemal der Mittelpunkt der klassi-
schen Bildung ist. Es zeigte sich alsbald, daß in dem Wettbewerbe
der Lehrfächer die Neigung der modernen Jugend sich immer stärker
und entschiedener den realistischen Fächern zuneigte, daß sie anderer-
seits durch die neuere Geschichte, besonders aber durch die vater-
ländischen Dichtungen weit lebhafter erweckt wurde, als durch die
Antike, Mit einem Worte, es zeigte sich, daß das Altertum der deutschen
Jugend nicht mehr dasselbe bedeutete, wie ihren Vätern und Vor-
vätern. Es ist klar, daß die Schuld an diesem Wandel nicht nur an
einer verfehlten Schulordnung lag, sondern daß derselbe tiefer im
Geiste der Jugend und des Zeitalters überhaupt begründet war. Durch
die Folgen der Schulreform trat nur zutage, was sich im stillen bereits
seit einem Jahrzehnt entwickelt hatte; eben jener moderne, nationale
Geist, der durch die Ereignisse des großen Krieges und die Auf-
richtung des Deutschen Reiches entfesselt und erstarkt war, hatte
ganz naturgemäß auch die Gemüter der Jugend ergriffen, er
bestimmte ihre Interessen und zog sie von der Betrachtung einer
‚Angst vergangenen Epoche ab, näher liegenden Gegenständen und
anmittelbaren Eindrücken zu. Das Studium des Altertums hatte auf-
gehört eine belebende Quelle für den Geist und die Gesinnung
anserer Knaben und Jünglinge zu sein; es blieb ihnen im besten
Falle etwas äußerlich Aufgenommenes, höchstens, daß ein oder der
andere Dichter des Altertums ästhetisch veranlagten Schülern ein
Interesse abgewann, das selten in die Tiefe ging, oder daß die sug-
gestive Kraft eines außergewöhnlichen Lehrers seine Schüler vorüber-
gehend für den Geist des Griechentums zu erwärmen vermochte. In
den meisten Fällen wurde die Notwendigkeit, sich mit dem Altertum
zu beschäftigen, von der heranwachsenden Jugend der oberen Klassen
als ein unerwünschter und unnatürlicher Druck empfunden.)
“) Dies ist freilich in Norddeutschland früher und stärker hervorgetreten, als in den
süddeutschen Staaten, wo die nationale und moderne Richtung nicht so ausschließlich
Besitz von den Geistern ergriff, und auch in Preußen selbst haben einige Schulen, die sich
auf eine besonders feste Tradition stützten, mit mehr Erfolg als die übrigen den Geist
les humanistischen Gymnasiums aufrecht erhalten können, so z. B. die alte Fürstenschule
Schulpforta und längere Zeit auch das Joachimsthalsche (iymnasium in Berlin. Allmählich
ıber hat der Wandel der Anschauungen sich auch hier durchgesetzt.