Full text: Die höheren Lehranstalten und das Mädchenschulwesen im Deutschen Reich (2. Band)

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Geschichtlicher Rückblick. . 81 
Unter den Gymnasiasten, die von diesem Gefühle am stärksten 
ergriffen waren, hatte sich um die Mitte der 70er Jahre einer be- 
unden, dem es bestimmt war, durch seine Persönlichkeit wie durch 
seine Lebensstellung einen entscheidenden Einfluß auf die innere und 
äußere Gestaltung des deutschen Lebens zu gewinnen. Es war Prinz 
Wilhelm, der nachmalige Kaiser Wilhelm II. Als er in verhältnis- 
mäßig jungen Jahren zum Thron berufen wurde, war das Bewußtsein 
des unnatürlichen und unersprießlichen Gegensatzes zwischen Schule 
und Leben, unter dem er als Schüler gelitten hatte, noch lebendig 
in ihm, und indem er seine persönliche Erfahrung vom Standpunkt 
des Herrschers aus für die Allgemeinheit zu verwerten unternahm, 
faßte er den Entschluß, den Geist, der auf den höheren Schulen 
Preußens herrschte, gründlich zu verändern. Nachdem bereits im 
Laufe des Jahres 1890 zwei Kabinettsordres die Reform angebahnt 
hatten, wurde gegen Ende dieses Jahres eine Konferenz namhafter 
Schulmänner und Unterrichtsbeamter — einige Universitätslehrer und 
Geistliche waren ebenfalls hinzugezogen — vom Kultusminister von 
Goßler zusammenberufen und bei der Eröffnung dieser „Dezember- 
konferenz‘“ erschien der Kaiser selbst, um die Beratung mit einer 
Rede zu eröffnen, in der er seine persönliche Willensmeinung kund- 
gab. Diese Rede ist ein geschichtliches Ereignis; sie bezeichnet einen 
Wendepunkt in der Entwicklung des deutschen Bildungswesens. Das 
bedeutungsvollste war, daß der Kaiser sich schroff und entschieden 
gegen den Geist des humanistischen Gymnasiums wandte, dem er 
vorhielt, das er seit dem Jahre 1870 stehen geblieben sei und nicht 
dazu geholfen habe, die große nationale Entwicklung weiterzuführen. 
Die Idee der formalen Bildung im alten Sinne des Wortes lehnte der 
kaiserliche Redner ausdrücklich ab. „Wenn man sich mit einem der 
Herren (die das Gymnasium vertreten) unterhält und ihm klar zu 
machen versucht, daß der junge Mensch doch einigermaßen praktisch 
ür das Leben und seine Fragen vorgebildet werden sollte, dann wird 
immer gesagt, das sei nicht Aufgabe der Schule, Hauptsache sei 
Gymnastik des Geistes, und wenn diese Gymnastik des Geistes ordent- 
ich getrieben würde, so wäre der junge Mann imstande, mit seiner 
Gymnastik alles für das Leben Notwendige zu leisten. Ich glaube, 
daß nach diesem Gesichtspunkt nicht mehr verfahren werden kann.“ 
Und ebenso entschieden wandte er sich gegen den Inhalt der bis- 
herigen gymnasialen Bildung. „Wir sollen nationale junge Deutsche 
erziehen und nicht junge Griechen und Römer, wir müssen von der 
Basis abgehen, die Jahrhunderte lang bestanden hat.“ „Statt des 
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. IL 
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