Full text: Die höheren Lehranstalten und das Mädchenschulwesen im Deutschen Reich (2. Band)

Der allgemeine Charakter der heutigen Schulerziehung. 93 
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ımfassen können, welche die Geisteskultur der Gegenwart oder auch 
aur das deutsche Geistesleben insbesondere hervorgebracht hat. 
Daher ist von vornherein die Möglichkeit gegeben, auf verschiedene 
Seiten der Gesamtbildung das Schwergewicht zu legen, und damit 
erscheint es gerechtfertigt, wenn das Ziel der allgemeinen Vorbildung 
auf verschiedenen Wegen angestrebt wird, denen die einzelnen 
Gattungen der Schulen entsprechen. Ja, es ist "klar, daß es der 
Jugendbildung nur zum Vorteil gereichen kann, wenn sie nicht 
uniform ist und sich nicht überall auf einem und demselben Aus- 
schnitt des allgemeinen Wissens erhebt, wenn vielmehr die ver- 
schiedenen Bildungskreise und -Wege sich ergänzen und ein Aus- 
tausch wechselseitiger Anregungen stattfinden kann. Verschiedenheit 
der Bildungswege ist also ein Vorteil für die nationale Kultur, aber 
freilich nur, wenn sie nicht so weit und so tiefgreifend ist, daß sie 
zur Spaltung und völliger Abtrennung der einzelnen Bildungssphären 
führt. Die modernen Völker alle leiden seit lange an dem Riß, der 
die Bildung der höheren Stände von der der arbeitenden Klassen 
trennt. Schlimm genug, daß gebildete und ungebildete Söhne des- 
selben Volkes in vielen, vielleicht den meisten Lebensfragen einander 
nicht verstehen. Unter keinen Umständen darf es dahin kommen, 
daß nun auch noch in den oberen Gesellschaftsklassen sich Bildungs- 
sphären voneinander absondern, deren Zöglinge Welt und Leben von 
ganz verschiedenen Voraussetzungen aus betrachten, weil die Grund- 
lagen ihres Geisteslebens völlig verschieden sind. Die Mannigfaltigkeit 
der Bildungswege ist daher nur dann ein Vorzug für das nationale 
Leben, wenn sie durch Einheit der wesentlichsten Grundlagen der 
Bildung ausgeglichen wird. 
Daher war es eine Gefahr, als, wie wir oben gesehen haben, 
vor einigen Jahrzehnten eine große Partei im Schulleben auf eine 
möglichst scharfe Scheidung zwischen humanistischer und realistischer 
Bildung hindrängte. Ein solcher Schritt müßte auf die Dauer zu 
einer tieferen Verschiedenheit der Welt- und Lebensanschauungen 
‘Ühren, als dem Volkskörper zuträglich sein kann. Eine Gefahr freilich 
war auch das umgekehrte Streben, das der Einheitsschule galt: das 
Erstarren in der Gleichmäßigkeit sei es einer alten Tradition oder einer 
gewaltsam aufgeprägten neuen Form, — auf jeden Fall wäre eine 
organische Vielseitigkeit der Bildung aufs empfindlichste dadurch 
gyeschädigt worden. 
Die preußische Schulbehörde hat mit ihrer Neuordnung — daran 
kann kein Zweifel sein — den einzigen Weg eingeschlagen, der beide
	        
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