Dennoch wirkte diese neue Ehrlichkeit in einem übertragenen
Sinne auf den Steinbau zurück. Ihr verdankt die neue Zeit die sach-
lich guten Warenhäuser; die Geschäftsgebäude, Fabriken und In-
dustrieanlagen, denen eine gewisse naturalistische Wucht eigen ist.
Da die Wirtschaft übermäßig wurde, forderte sie die große Dimen-
sion. Schmucklosigkeit, Einfachheit, Sachlichkeit und große Dimen-
sion sind in ihrem Verein aber in einer gewissen primitiven Weise
formbildend gewesen. Über das rein Zweckmäßige hinaus veran-
schaulichen diese Architekturformen wirtschaftliche Kraft, sie be-
rühren wenigstens das Gleichnishafte, Dieser Nutzbaustil ist eine
Art moderner Halbkunst. Es ist darin ein Kolossaltrieb enthalten,
jener Trieb, der in Nordamerika die Wolkenkratzer gebaut hat.
Dieser Kolossaltrieb ist charakteristisch für die Großstadt, für die
Weltstadt überhaupt. Er ist auch bezeichnend für das vorläufige
Ende einer jahrtausendalten Baukultur. Das Rom der Cäsaren
wurde von ihm ebenfalls beherrscht. Um aber zu ermessen, wie
weit unsere Zeit hinter jener altrömischen Epoche zurückstehen
muß, mag man moderne Kolossalbauten mit den altrömischen Bä-
dern und Theatern vergleichen.
Auch von der künstlerischen Einzelform aus wurde eine Reform
versucht. Die Experimente, die in den letzten Jahren des neunzehn-
ten Jahrhunderts begannen, sind unter dem Namen Jugendstil zu-
sammengefaßt worden. Die Bewegung begann in England, wurde
in den Niederlanden aufgenommen und in Deutschland weiterge-
führt. Ihre Vertreter waren nicht Berufsarchitekten, sondern Maler
und Kunsthandwerker. Die revolutionäre Tätigkeit begann inner-
halb des Kunstgewerbes — auch hier dem Worte Sempers folgend,
eine Erneuerung der architektonischen Künste könne nur vom
Kunsthandwerk ausgehen —, ja sie begann noch spezieller mit dem
Ornament, hatte aber die Tendenz, über Handwerk und Industrie
zur Architektur zu gelangen. Instinkt und Talent waren beteiligt.
Das erste war eine Abkehr von der Imitation historischer Stile, was
aber nicht ausschloß, daß die neue Form sichtbar barocken Über-
lieferungen verbunden war. In den Ornamenten des Jugendstils
war eine intellektuelle Lust an der Motivierung, eine Freude am
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