Die Gotik faßte in Deutschland Fuß nach dem Zusammenbruch
des Kaisertums, während des Interregnums, zugleich mit dem ein-
setzenden Partikularismus und dem daraus und aus andern Ursa-
chen sich ergebenden Aufstieg der Städte, dem Erstarken der Stadt-
bevölkerung und der Schwächung des Adels. In der Mitte des drei-
zehnten Jahrhunderts hatte das Rittertum, dessen freie Lebenshal-
tung sich in der Monumentalskulptur, in der reifen romanischen Bau-
kunst und im Heldenepos spiegelt, seine Kraft erschöpft. In seinen
Händen wurde Tradition zur Konvention. Die Kreuzzüge wa-
ren im wesentlichen mißlungen, das ideologisch zu hoch gesteckte
Ziel hatte nicht erreicht werden können; nur die Kolonisierungsar-
beit der Deutschordensritter im Nordosten setzte den Kreuzzugsge-
danken praktisch noch fort. Mit dem Verfall des Kaisertums war
schon äußerlich eine gewisse Zersplitterung des Adels, des Ritter-
tums verbunden; die Wiederherstellung des Kaisertums unter Ru-
dolf von Habsburg und seinen Nachfolgern konnte daran nichts än-
dern, weil der dynastische Gedanke ein anderer geworden war, weil
es sich jetzt um ein reines Wahlkaisertum handelte, dem die Idee
eines selbsttätig fortzeugenden Erbwillens fehlte, weil ein mehr for-
males als seelisch zusammenfassendes Kaisertum über Deutschland
herrschte. In jedem Sinne mußte die Einheitlichkeit verlorengehen.
Die vielen kleinen Fürstentümer, die weltlichen und geistlichen, wur-
den anspruchsvoll; und sie wurden es in einer politischen Weise auf
Kosten des Ganzen. Das positiv Neue aber war, daß die Städte, ihre
Einwohner und Selbstregierungen mächtig wurden. Der Adel trat
zurück als Träger vorbildlicher Lebensformen; er wurde müßig,
verlor an innerer Macht und verarmte; nicht zuletzt, weil die Stadt-
wirtschaft nun die Landwirtschaft verdrängte und an die Stelle der
Naturalwirtschaft die Geldwirtschaft gesetzt wurde. Der Bewohner
der Städte schickte sich an, Träger neuer Lebensformen zu werden.
Auch in der Kirche gingen wichtige Wandlungen vor: sie verfiel
innerer Unordnung, als im vierzehnten Jahrhundert französische
Könige die Päpste gezwungen hatten in Avignon zu residieren. Damit
und mit der daraus folgenden Aufstellung eines Gegenpapstes war die
zentrale Macht gebrochen. InDeutschland kamin die Kirche eine aus
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