Ursache und Bedingung.
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sache‘ doch kurz die Berechtigung hierzu begründen. Dabei
werden wir gut tun, nicht irgendeinen Ursachbegriff einer Einzel-
wissenschaft — und sei es der Physik — unbesehen zu über-
nehmen, sondern eine kleine erkenntniskritische Abschweifung zu
machen46.
Auf Grund seiner Erlebnisse mit der vielfachen Wiederkehr des an-
nähernd Gleichen fühlt sich der Mensch gedrängt, an die vergangenen
wie auch an die künftigen Erlebnisse mit der Vorstellung eines Ordnungs-
gefüges heranzutreten, das freilich etwa für den zaubergläubigen Tibetaner
ganz anders aussieht als für einen IMMANUEL Kant. Allmählich entsteht
die Verstandesforderung einer einheitlichen kausalen Verknüpfung der
Dinge, die in ihrer höchsten wissenschaftlichen Entwicklung darauf hinaus-
Jäuft, daß „in jedem Augenblick die gesamte Weltlage den nächsten Augen-
blick bestimmt‘ (MAUTHNER), oder daß es „kein Einzelgeschehen gibt,
das nicht näher oder ferner durch alles frühere und gleichzeitige Geschehen
bedingt ist‘ (N. HARTMANN), oder daß „der zureichende Grund jedes
Geschehens in der Gesamtheit des voraufgehenden Verhaltens zu erklären
ist“ (v. KRIEs). (B. RUSSELL: Theoretisch muß die Ursache das ganze Uni-
versum enthalten.) Da mit diesem universellen Postulat — dessen Gültigkeit
weder bewiesen noch widerlegt werden kann — im Leben wie in der Wissen-
schaft nicht ohne Aufspaltung in einzelne Kausalreihen und Kausalgewebe
gearbeitet werden kann, so holt der Mensch im Wort- oder Zahlensymbol*
aus dem unendlich ausgedehnten Fluß des zeiträumlichen Geschehens
einzelne, kleinere oder größere Gefüge von Ursache und Wirkung heraus,
die sprachlich durch die Wortgefüge „weil — darum“, oder „wenn — dann“*
gekennzeichnet und nach dem Bilde eigener Kraft- und Willensäußerung
vorgestellt werden. „Der Ursachbegriff geht auf den handelnden Menschen
zurück; der Wille als Ursache, die ihr Ziel in sich trägt‘ (STEINMANN).
Bei der unendlichen Mannigfaltigkeit des dicht verwobenen Geschehens
in der Welt und bei der Entwicklungsweise des sprachgebundenen Denkens
nimmt es nicht wunder, daß sogar in den exakten Naturwissenschaften
bald Dinge (Sachen) als bedingende Ursachen angeführt und behauptet
werden, bald auch Eigenschaften, Tätigkeiten und Vorgänge, ferner „Ge-
dankendinge‘“ und verallgemeinernde „Beziehungen‘“ (abstrakte Begriffe,
wie Kraft, Leben usw.), dazu schließlich psychische Gebilde mannigfachster
Art. All dies ist tatsächlich auch in der Wissenschaft zulässig, wenn man
sich nur darüber immer klar bleibt, daß die Gesamtursache stets ein in seinen
Grenzen verschwimmender unübersehbarer Komplex ist, von dem nur,
dem jeweiligen Aufmerksamkeitszustand und Interessenkreis entsprechend,
ein bestimmter, quantitativ oft sehr unbedeutender Anteil als „auslösende‘“
oder „unmittelbare‘“ oder „entscheidende“ Ursache hervorgehoben und
alles übrige als „Bedingung“ bezeichnet wird. Es sei das bekannte Bei-
spiel eines Eisenbahnunglücks bei falscher Weichenstellung angeführt, wo
der kausale Totalzusammenhang aus Hunderten von Bestandteilen besteht
(in bezug auf Dampfkraft, Trägheitsgesetz, Eigenschaften der Stoffe und
ihre Reaktion auf plötzliche Geschwindigkeitsänderungen, geringe Wider-