Ruhr, 389
Am verbreitetsten ist die Ansicht, dass das Contagium an den Stuhlent-
leerungen hafte, und die Krankheit sich durch Benützung derselben Leib-
stühle und Retiraden weiter verbreite. Da die Krankheit fast stets in grös-
serer Ausbreitung durch miasmatische Verhälinisse bedingt auftritt, so ist
es sehr schwer über die Contagiosität derselben ein sicheres Urtheil zu
fällen — was die Anhänger des Contagiums diesem, können die Gegner
desselben mit demselben Rechte dem Miasma zur Last legen. Für die
Contagiositäl sprechen besonders: Pringle, Zimmermann, Cullen,
Linne, Hoffmann, Pinel, Frank, Desgenettes, Gilbert, Trous-
seau, Parmentier, Virchow u. A. gegen dieselbe: Chomel, Blache,
Andral, die sie wenigstens im sporadischen Zustande für nichteontagiös
halten, dann Stoll, Vaidy, Fournier, Catel, Annesley, Cambay.
Doch sind nur die Ansichten der Wenigsten exclusiv, indem eine grosse
Anzahl der Contagionisten behaupten, dass die Dysenterie nur unter
ganz besondern Umständen contagiös werde, und hierin der Ansicht meh-
rerer Nichteontagionisten begegnen. Zwei der besten und nüchternsten
Beobachter Annesley und Cambay äussern sich in dieser Beziehung
dahin, dass, wenn auch in der That nicht selten in Krankensälen, wo
Dysenterische liegen, auch andere Kranke von Dysenterie befallen wer-
den, diess noch nichts für die Contagiosität, sondern eben nur für die
Wirkung einer jener Ursachen beweise, von der auch sonst bekannt ist,
dass sie für die Entstehung der Dysenierie eine der wichtigsten sei,
nämlich animalische Eifluvien bei erhöhter Temperatur und mangelnder
Lufterneuerung — und Cambay bemerkt, dass er nicht selten auch in Sä-
len, wo keine Dysenterischen lagen, die Krankheit auf diese Weise habe
ausbrechen sehen. Diese Ansicht theile auch ich aus innerster Ueber-
zeugung und bin zu ihr ohne die Meinung der genannten Schriftsteller
zu kennen, selbstständig gelangt und zwar nicht nur für die Dysenterie,
sondern auch für den Typhus. Uebrigens glaube ich, dass es am besten
sei, diese Frage vor der Hand noch als eine offene zu beirachten, und im
vorkommenden Falle solche Vorsichismassregeln zu treffen, als ob die
Darmsecrete in der That die Fähigkeit, die Krankheit auf Andere zu über-
tragen, besässen.
$. 94. Die eigentliche croupöse Dysenterie und die Follicularver-
schwärung des Dickdarms sind zwar vom anatomischen Standpuncte diffe-
rente Processe, vom klinischen aus zeigen sie jedoch eine so grosse
Analogie, man könnte fast sagen Identität, dass man sich der Vermuthung
nicht erwehren kann, es seien beide Processe nur durch das anatomische
Substrat, welches in einem Falle die freie Fläche der Schleimhaut, im an-
dern vorzugsweise die Höhle der Darmtollikel ist, in gewissem Grade
von einander verschieden. Da beide Zustände sich überdiess sehr häu-
fig combiniren, besonders in der Art, dass bei dysenterischen Exsudalio-
nen auch gleichzeitig Follieularentzündung vorhanden ist, da die ätiologi-
schen Momente, die Symptome bis auf geringfügige, nicht selten fehlende
Modificalionen, der Verlauf, die Prognose und Behandlung bei beiden ganz
dieselben sind, so können sie vom klinischen Standpuncie nicht getrennt
werden. — Auch beim einfachen Darmcalarrhe ist häufig Schwellung
und Entzündung der Darmfollikel in geringerem Grade vorhanden, in man-
chen Fällen kömmt es selbst zu ausgebreiteten Verschwärungen derselben,
oder zu croupösen Exsudaten auf die Schleimhaut, und es gibl so vom
leichtesten Darmeatarrhe bis zur entwickeltsten Dysenterie zahllose Mittel-
stufen, die sich leichter in Büchern, als in der Wirklichkeit strenge von
einander scheiden lassen.