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von einer angeblichen «natürlichen Gliederung» der Geſellſchaft, den A. als einen «Stand
des Beharrens» neben dem Bauernſtande, gegenüber den «Ständen der Bewegung» im Bürger-
thum und Proletariat, idealifivend ausfchmücte und den Staatsgewalten zu beſonderer Pflege
empfahl. Schon ein Jahrzehnt früher hatten ähnliche Ideen und Tendenzen ihre fchlagende
Widerlegung zumeiſt dur einfahe Schilderung des thatſächlichen Verhaltens ſolcher bevor-
vechteter Adelselemente gefunden in Schriften, wie: Bode, «Beitrag zur Gefchichte der Feudal-
ſtände in Braunſchweig und ihres Verhältniſſes zu Fürſt und Volk» (Braunfhw. 1843), «Die
ariſtokratiſchen Umtriebe u. |. w.» (Lpz. 1843), Liebe, «Der Grundadel und die neuen Ver-
faſſungen » (Braunſchw. 1844), u. a. m,
Während derartige Verſuche einer Wiederherſtellung der Bevorrechtungen des A. in alter
Weiſe mit dem ganzen Zuge der modernen Cultur in einem ſo entſchiedenen Widerſpruche
ſtehen, daß fie zwar zeitweilig oder hier und da einzelne praftifche Erfolge erzielen, \{<ließ-
lih aber nur das unvermeidliche Reſultat haben können, das Junkerthum und damit zu:
gleich den ganzen Stand (weil die öffentliche Meinung das Junkerthum nach deſſen eigenem
Vorgang mit dem A. ſchlechthin identificirt) vollends aller Wurzeln im Volke zu berauben und
als einen Anachronismus der unverträglichſten Art erſcheinen zu laſſen, ſo verdient dagegen
eine andere Reihe von Beſtrebungen für eine Reform des Adelsinſtituts, wie ſie theils von
Mitgliedern des A. ſelbſt, theils auh von Nichtadelichen mehrfach angeregt worden find, min-
deſtens eine ernſthaftere Beachtung und Prüfung. Die aufrichtigen Anhänger dieſer Richtung
geben den A., wie er heutzutage bei uns befteht, d. h. die zahlloſe Maſſe der bloßen «Herren
von», die keine andere Grundlage einer bevorzugten ſocialen Stellung aufzuweiſen haben als
ihren Stammbaum und ihr Wappen, völlig preis, fordern ausdriclich feine Aufhebung, feine
Verſchmelzung mit dem Bürgerthum, verlangen aber an deſſen Stelle die Schaffung eines
lebensfähigen, politiſh und ſocial gewichtigen und gemeinnitgigen, auf großem, gefeſtetem Grund-
befig ruhenden, mit polit., nicht aber mit privatrechtlichen Vorzügen ausgeſtatteten, kurz, eines
A. nah dem Muſter der engl. Nobility. Ideen ſolcher Art entwielte ſhon in den dreißiger
Jahren Fürſt Püfler-Muskau in ſeinem «Semilaſſo», Etwas Aehnliches hatte wohl König
Friedrih Wilhelm IV. von Preußen im Sinne, als er bald nach ſeiner Thronbeſteigung zur
Bildung eines neuen Majoratsadels Anſtoß und Förderung gab. Die Sache hatte jedoch
keinen merkbaren praktiſhen Erfolg. Die Bildung einer beſondern « Herrencurie » bei dem
Vereinigten Landtage von 1847 war ein weiterer Schritt in dieſer Richtung. 1848 verfuchte
man es in Preußen und Oeſterreich mit der Herſtellung einer ariſtokratiſhen Pairskammer,
aber die öffentliche Meinung erklärte ſih damals ſo entſchieden dagegen , daß man davon ab-
ſtand. Nah mancherlei Verſuchen und Kämpfen kam es in Preußen zur Einſetzung eines
«Herrenhauſes» , in welchem jedoch die Berückſichtigung des kleinen, wenig begüterten, aber
um ſo anſpruchsvollern A., der ſogenannten «kleinen Herren» (der rect eigentlichen Vertreter
des Zunkerthums), gegenüber dem hohen, auf großen Grundbeſitz fundirten und darin wenig-
ſtens einigermaßen dem engl. ähnlichen A., viel zu ſchr überwiegt. Es iſt niht unbemerkt
geblieben, daß faſt bei allen unvolksthümlichen Schritten des preuß. Herrenhauſes dieſe «kleinen
Herren» in erſter Linie thätig waren, während die Mitglieder des hohen und reihbegüterten
A, wenigſtens zum Theil ſih davon fern hielten oder gar Oppoſition dagegen im Sinne eines
gemäßigten Fortſchritts machten.
Beſſer gelungen erſcheint die Zuſammenſetzung des öſterr. Herrenhauſes, Jn Oeſterreich
gibt es einen durd) bedeutenden Reichthum und außerdem noh großentheils dur berühmte,
mit der vaterländiſchen Geſchichte engverknüpfte Namen ausgezeihneten A., und dieſer hat
in ſeinem parlamentariſchen Auftreten jedenfalls größere und weitere polit. Geſichtspunkte
bewährt als die «kleinen Herren» im Herrenhauſe zu Berlin. Auch in andern deutſchen Kam-
mern haben fich einzelne Elemente einer ihre polit. Auſgabe in etwas höherm Sinne auffaſſen-
den Ariſtokratie, namentlih unter den ſogenannten Standesherren oder dem hohen A., gezeigt.
Aber freilich haftet auch dieſen beſſern Elementen des A. in ihrer gegenwärtigen Stellung der
Beſitz und die Uebung von Bevorrechtungen, die gegen das Zeitbewußtſein ſtreiten, als Hinderniſſe
einer völlig unbefangenen und volksthümlichen Wirkſamkeit an. Von theoretiſchen Vorſchlägen
zur Schaffung einer Erbpairie nach engl. Mufter find ans der neuern Zeit zu erwähnen: «Ueber
den Beruf des A. im Staate und die Natur der Pairieverfaffung» (Stuttg. 1852) von Eiſenhart
(der durch geſetzliche Geſchloſſenheit und Unveräußerlichkeit großer Majorate der fortſchreiten-
den Bodenzerftüicdelung entgegenarbeiten will), «Ueber die Bildung der Erften Kammern und
die Adelsreform in Deutſchland» von Bluntſchli (Münch: 1850), Gaupp, «Denkſchrift u. #, w.»