Full text: A bis E (1. Band)

  
  
Baden 145 
* Baden. Die Geſchichte dieſes Landes, in der neueſten Zeit durch 
die Entwi>elung eines großartigen öffentlichen Lebens ein Lichtpunkt in der 
politiſchen Geſchichte Deutſchlands, trug bis zu den gewaltigen Anderungen des 
Jahres 1830 einen ganz andern, ja einen entgegengeſebten Charakter. Bor 
dieſer Epoche, welche fo viele Verhältniſſe von Grund aus umgeſtaltete, bot ſich 
Jahre lang kaum ein hiſtoriſches Moment für das Auge des Beobachters; ſtatt 
einer Bewegung moraliſcher Kräfte, der tro>ene Stoff zu einer Alltagschronik von 
materiellen Dingen, ſtatt der Geſchichte eines Volkes, die Geſchichte eines Mannes, 
der wie Ludwig XIV. von ſich ſagen mochte: „Der Staat bin ih.“ Es war die 
Wiederholung eines allgemeinen Bildes von Herrſchaft der Reaction, Militair- 
ariſtokratie, materiellen Laſten und geiſtigem Dru. Dieſes Alles, den vollfom: 
menſten Abſolutismus repräſentirend, beſtand in Baden neben dem Namen einer 
Verfaſſung, welche durch Bereinigung von Gewalt und Hinterliſt factiſch vernich- 
tet war und ohne die Garantien von Preßfreiheit und Volksbewaffnung nicht in 
Mark und Leben übergehen konnte. Das Volksleben war nur ein paſſives, die 
Geſchichte ſchien auf dem bezeichneten Punkte ſtillſtehen zu wollen. Aus dieſem 
eintönigen Bilde hob fich das Jahr 1829 mit einigen marfirten Zügen hervorz es 
war die vom Großherzog Ludwig verſuchte Einführung der preußiſchen Kirchen- 
agende (f. Ziturgieverä nderungen), verſucht auf Schleichtwegen und gegen 
die badiſche Kirchenverfaſſung, welche indeß ebenfalls durch Nichtberufung der Ge: 
neralſynode fo gut al vernichtet war; e8 war ferner die Säcularfeier der Geburt 
Karl Friedrichs, durch den Contraſt ſeiner ſegensreichen Regierung mit der Gegen- 
wart eine wahre Jronie in dieſer Zeit, und gleichſam eine Vorbedeutung des Um- 
ſ{wungs, den das folgende Jahr bringen ſollte. Am 30. März 1830 ſtarb Lud- 
wig nach kurzem Krankenlager, und den erledigten Thron beſtieg Leopold, ein Sohn 
Karl Friedrichs, freudig begeht von dem hoffenden Volke. Seine erite öffentliche 
Erklärung war das Gelübde, die Verfaſſung heilig zu halten. Bald folgten die 
Lebenszeichen einer durchgreifenden Veränderung, die Cabinetsherrſchaft machte 
einer conſtitutionnellen Regierung Plas, die Camarilla trat nach und nach in den 
Hintergrund; mit einem lange nicht gekannten Vertrauen empfing das Volk dieſe 
Unterpfänder einer beſſern Zukunft. Dieſes Vertrauen erhielt in Baden die gefes: 
liche Ruhe, während bie Folgen der franzöſiſchen Juliusrevolution Europa erſchüt- 
terten, ein lange geſammelter Gährungsſtoff aufbrauſte, und von zwei Seiten bie 
Sturmflut an die Grenzen ſ{<lug. Unter Ludwigs Regierung hätte eine Zeit ge: 
fährlich werden mögen, welche allenthalben das Bewußtſein verlezter Rechte und 
Intereſſen we>te und von einem ſcheintodten Volksgeiſte den Grabſtein hob. 
Jet wurde ſie es nicht, und die ſogenannten Unruhen in Karlsruhe im September 
1830 waren nichts als ein Unfug der Straßenjugend gegen Juden, von einem un- 
verſtändigen Polizeidirector als Revolution behandelt, und ohne Ereeffe, als die 
des aufgebotenen Militairs. Gegen das Ende des Jahres 1830 fanden die Wah- 
len für den nächſten Landtag ſtatt, wobei die Regierung eine erklärte Nichteinmi: 
ſchung beobachtete; das Volk entwickelte eine im höchſten Grade lebendige Theil: 
nahme, und eine tiefgehende geiſtige Bewegung warf fich in diefe Bahn zu dem 
Biel einer gefeglichen Reform. Die praktiſchen Lehren der Cabinets8herrſchaft ſelbſt 
hatten die Maſſe mit ſolchem conſtitutionnellen Sinn durchdrungen ; das Übrige 
wirkte der Einfluß der Zeitereigniſſe überhaupt und des Thronwechſels, einer Ver- 
änderung, welche jederzeit Erwartungen ſpannt und Hoffnungen aufregt. Unter 
dieſem dreifachen Einfluß ging aus den freien Wahlen eine Volkskammer hervor, 
welche der treue Ausdru> des Geſammtwillens war, die Blüte des Volks an Jn: 
telligenz, Charakterkraft und redlichem Willen. Noch vor dem Zuſammentritt der 
Stände, ſolchen Geiſtes gewiß und die Ohnmacht ihm gegenüber nicht minder füh- 
lend, zogen ſich zwei unpopulaire Mitglieder des Miniſteriums aus demſelben zu- 
Conv.-Lex, der neueften Zeit und Literatur, I 10 
 
	        
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