Full text: A bis E (1. Band)

Conſtitutionnelles Syſtem 515 
haben, und welche tiefe Rohheit neben den Thaten und Leiſtungen der Vorzeit ſtand. 
So viel Kurzſichtigkeit es verräth, wenn man jede Neuerung verdammt, weil fie 
neu iſt, ebenfo fchwadh zeigt fich das Urtheil Derer, welche nur Lobredner einer alten 
guten Zeit ſind. Nicht Alles, was auch der denkende Mann als einen Fortſchritt 
zum Beſſern erkennt, iſt aber ein wirklicher dauernder oder definitiver Gewinn, ſon- 
dern häufig nur ein Verſuch, deren oft viele nôthig ſind, um nach mannichfaltigen 
Kämpfen und anſcheinenden Rückſchritten (Läuterungen durch die Erfahrung) feſte 
Wurzeln zu ſchlagen und ein neues Leben hervorzurufen. Aber wenn hier oft die 
Hoffnung des Beſſern voreilig ergriffen wird, ſo iſt auch auf der andern Seite der 
Serthum nicht minder gewöhnlich, welcher in dem Mislingen der erſten Verſuche 
ſogleich eine definitive Entſcheidung des Schickſals erkennt. Die größten Verân- 
derungen Eommen aus geringen Anfängen und tragen in ihrem Beginne gar oft 
das Gewand der Thorheit, nicht bloß weil ſie von der Welt misverſtanden werden, 
ſondern weil ſie ſich ſelbſt nicht recht Elar find und von den Schladen der Übertreis 
bung und der Selbſttäuſchung reinigen müſſen. Auch bei der Betrachtung der 
Begebenheiten, welche in das conſtitutionnelle Leben der Staaten feit den legten 
fünf Jahren ſo außerordentlich tief eingegriffen haben, durfen dieſe Geſichtspunkte 
von keiner Seite aus den Augen verloren werden, und zwar um ſo weniger, je noths 
wendiger es ſein dürfte, den heutigen Zuſtand der bürgerlichen Geſellſchaft einer 
ſehr ernſten und gründlichen Unterſuchung zu unterwerfen. Der Raum geſtattet 
hier nur Umriſſe und Aufſtellung der wichtigſten Thatſachen, nicht aber ein tieferes 
Eindringen in die entfernter liegenden Urſachen der Erſcheinungen. Aber ſchon die 
einfachen Thatſachen mahnen zum reiflichſten Nachdenken vornehmlich darüber, in- 
wieweit Widerſtand gegen die große Bewegung der Zeit noch möglich, oder Fuge 
Nachgiebigkeit, bei welcher man die Zügel in der Hand behält, ſowol von der Ges 
rechtigkeit gefodert werde als auch das einzige Mittel ſei, das Beſtehende wenig=- 
ſtens nicht gewaltſam zuſammenſtürzen zu laſſen. Bon dieſen Thatſachen iſt die 
erſte der Zuſammenhang, welcher ſich in dem conſtitutionnellen Leben der weſtlichen 
europáiſchen Völker offenbart und ebenſo wenig. ein Werk der Cabinete iſt, die mit 
großer und ruhmwürdiger Anſtrengung jeder Urſache der Sriedensftörung entgegen= 
arbeiten, als in den untern Regionen Propaganden und geheime Verbindungen 
für die Urheber dieſes allgemeinen Zuſammenhanges angeſehen werden können. 
ne Auénahm Man frage ſich nur ernſtlich, ob der Ruf des Beifalls oder des Schmerzes, welcher 
die Del bei jedem wichtigen Creigniß in dem Leben irgend eines Bolkes durch ganz Europa 
ude oder dit widerhallt, nur von Verſchworenen ausgehen könne. Die Völker fühlen aber, daß 
cde ſie wirklich ſind, was Napoleon ſo oft ſagte, eine große eng verbundene Völker: 
familie , in welcher ficy nichts Wichtiges begeben kann, ohne daß es feine Wirkuns 
gen durch dag Ganze verbreite, und daß, was auch jeßt fo oft von oben herab gefagt 
wird, jedes Glied dieſer großen Völkerfamilie für die Gefammtheit nothwendig iſt, 
wenigſtens nicht ohne große Gefahr ſeines politiſchen Daſeins beraubt werden 
kann. Man fühlte, daß es kein leeres Wort war, als der unſterbliche Canning 
in der hôhern Weihe politiſcher Weisheit, zu welcher er ſich in dem legten Abſchnitte 
ſeiner Laufbahn erhoben hatte, den Grundcharafter ſeines Syſtems damit bezeich- 
nete: „Vernünftige Freiheit ber die ganze Welt!” Die Erfahrung zeigt, daß jeder 
Gewinn an wahrer Freiheit, welcher einem Volke zu Theil wird, allen zu Gute 
fommt, und jede Unterdrückung allen gefährlich wird, weil die vernünftige Freiheit 
durch ihr bloßes Beſtehen der lauteſc2 Vorwurf für ihre Unterdrüder wird. Die 
zweite große Thatſache iſt die in den Völkern erwachte und fchnell erjtarkte Liebe 
einer vernünftigen Freiheit, welche mit dem erhöhten Ehrgefühl ſelbſt Derer, denen 
man ſonſt faum eine Ehre zugeſtehen wollte (wie lange iſt es her, daß man die 
Verſicherung : „auf Ehre“, in dem Munde eines Menſchen, der keinen Degen an 
der Seite trägt, lächerlich zu finden ſich erlaubte ?), eins und alte ift. Fragt 
3: 
  
  
     
	        
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