518 Contagium und Miasma
ſtitutionnellen Syſtems hebt ſich bei dem großen Uebergewicht, welches die Maſſen
aufs Neue erlangt haben, hervor, und dies iſt die Frage, wie dabei dennoch irgend
eine Regierung beſtehen und eine öffentliche Ordnung aufrecht erhalten werden
Eönne. Auch hier iſt das Beiſpiel Franfreichs belehrend und warnend. Alle Par-
teien ſind darin einverſtanden, daß die Regierung — wenigſtens bis zur neueſten
Kataſtrophe im Jun. 1832 — dort noch lange nicht die gehörige Kraft entwickelt
hat, entweder weil ſie ſelbſt niht Entſchloſſenheit und Feſtigkeit genug beſaß, oder
weil es ſchwer iſt, etwas zu entwideln, was man nicht zu haben ſi hinlänglich be:
wußt iſt, Damit, daß die „öffentliche Ordnung” der Freiheit gleichſam als Gegengift
und Antitheſe angehängt wird, iſt ebenſo wenig gethan, als damit, daß man eine
richtige Mitte zur Regel nimmt, bei welcher man aber an nichts denkt als an das Ver-
meiden jedes entſchiedenen und kräftigen Schrittes. Bis auf jene Kataſtrophe haben
die unzähligen Volksaufſtände in Paris, Lyon, Strasburg, Grenoble u. ſ. mw. freilich
keine weitern Folgen gehabt; allein daß ſie ein Beweis von der Kraft der Regie-
rung ſeien, wird man auch nicht behaupten mögen. Es fehlt daher augenſcheinlich
an irgend Einem, wodurch die Nation beſchäftigt, und zwar mit einem allgemeinen
Intereſſe beſchäftigt, und zugleich die arbeitenden Claſſen ernährt werden könnten ;
auf der andern Seite aber fteht die Regierungsin ihren oberſten Organen zu ſehr den
Maſſen unmittelbar gegenüber. Eine Unzufriedenheit in der Hauptſtadt bringt eine
Bewegung gegen die oberſten Staatsautoritäten, die Miniſter und die Kammern,
oder gegen den König felbft hervor; eine Unzufriedenheit in den Provinzen und
größern Städten muß in ihren Ausbrüchen ebenfalls gegen das Syftem der Regie:
rung, gegen Verfaſſung und Dynaſtie gerichtet fein. Es fehlt an ſelbſtändigen Zwi-
ſchenbehörden, welche den Beſchwerden abhelfen, durch locale Anſtalten und Maß-
regeln abhelfen könnten. Daher iſt es von den beſſern Köpfen Frankreichs öfters
ſhon bemerkt worden, daß dieſes Übel eigentlich in dem Übertreiben der Centrali:
ſation der Regierung, oder in dem Mangel einer wohlgeordneten, ſelbſtändigen
Provinzialverwaltung und Gemeindeverfaſſung liege, durch welche provinzielle und
locale Intereſſen mehr gefördert, aber auch die unermeßliche Verantwortlichkeit der
höhern Regierungsbehörden (die faft ganz auf die Miniſter zurü>fällt) getheilt und
vermindert würde. Dies iſt ein Zweig des conſtitutionnellen Syſtems, in welchem
man in Deutſchland wenigſtens viel weiter gekommen iſt als in Frankreich, obgleich
auch unſere Gemeindeverfaſſungen (f.d.) noch großer Vervollkommnung
fähig ſein möchten. (3)
Contagium und Miasma. Zwei Ausdrú>ke der mediciniſchen
Kunſtſprache, welche jest mehr als je im Munde des Nichtarztes ſind, häufig
falſch angewendet, mit einander verwechſelt oder wol auth für gleichbedeutend
gehalten werden. Shr wahres Verhältniß gegen einander ergibt fich fehr leicht
aus folgender Betrachtung. Überſieht man die mancherlei krankmachenden Ein-
flüffe, welche auf den Menſchen einwirken und als Urſachen ſeiner Krankheiten
gelten, wie Hige, Kälte, Gifte, ſchädliche Nahrungsmittel u. f. w., und hält
man fie mit den durch die Erfahrung bekannt gewordenen Entſtehungen der wirk-
lichen Krankheiten zuſammen, ſo gelangt man bald zu der Überzeugung, daß
alle diefe Schädlichkeiten nicht ausreichen, die große Verbreitung mancher Krank:
heiten und die große Ahnlichkeit, welche die einzelnen Fälle derſelben unter ein-
ander haben, befriedigend zu erklären. Meitere Sorfhung hat gelehrt, daß 1)
manche Krankheiten die Eigenſchaft haben, in einem andern dazu geeigneten
Individuum dieſelbe Krankheit wiederzuerzeugen, und den zu dieſer Fortpflan-
zung geeigneten Stoff nennt man Anſte>ungsſtoff (contagium); daß 2
manche Luftverderbniſſe gebe, welche unſere jebige Chemie nicht zu erforſchen
vermag und die nur dadurch zu erkennen find, daß die meiften in einer fol:
chen Luft lebenden Individuen, von einer beſtimmten Krankheitsform befal-