628 Deutſche Literatur
Mancher, der früher Zeiten gedenkend, jezt hmerzlih vermißt. Unterdeß müſſen
wir mit Dank annehmen, was, troß der Ungunſt des Augenbli>s und mit Ver-
zichtung auf das liebevolle Entgegenkommen der Mitwelt, von Einzelnen geboten Mi
wird. Als ein günſtiges Vorzeichen, daß das Geſchrei der Mode und die erkünſtelte zZ
Begeiſterung einiger Lieblingsſchriftſteller der Zeit die Rückkehr zur Natur, wo fie u
Noth thut, nicht hindern werde, mag uns die Liebe gelten, mit der in den lebten } 4
Jahren die poetiſhen Stimmen der Völker geſammelt und durch treue
Übertragungen Allen, die dafür Sinn haben, zugänglich gemacht worden find. D
Gleichzeitig mit W. Müller's neugriechiſchen Volksliedern erſchienen tie zuerſt von pA
Wuk Stephanowitſch uns zugeführten ſerbiſchen, in Überſezungen von Fräulein ar
Thereſe von Jakob (Talvj), denen fpäter die von v. Göge (1827) und Gerhard 2
(1828) folgten. Zu anziehender Vergleichung ſchloſſen ſi ihnen neue derartige vun
Sammlungen in ſchneller Aufeinanderfolge an. Stimmen des ruſſiſchen Volks gab u
v. Ööge, mit magyarifchen Volksliedern erfreute Graf Mailäth, mit böhmifchen, PY
lithauiſchen und ſchottiſchen beſchenkten uns Andere, nachdem früher ſhon die fi
Brüder Grimm durch ihre „Jriſchen Elfenmärchen““ uns einen Blick in das an u
poetiſchen Geſtaltungen reiche Zauberleben nordiſchen Geiſterglaubens hatten thun ih
laſſen. So wurden von vielen Seiten Quellen aufgerhan, aus denen die heimi-
ſche Poeſie ſich verjüngen und kräftigen konnte.
Kein Dichter vielleicht hatte in neuerer Zeit den Reichthum der Sage und it
des Bolksglaubens mit freierer Selbſtändigkeit zu dem ſeinigen gemacht, als der
I) treffliche Uhland, und ſo mag es immerhin als ein gutes Zeichen gelten, daß feine
ji. G-dichte — nicht in Felge erfchlichener Lobreden — ganz zulegt noc) in der fünften
Auflage erſchienen ſind. Werden ſeine patriotiſchen Lieder jeßt beſſer durch ganz
Deutſchland verſtanden werden , ſeitdem die Jutereſſen, die zur Zeit ihrer ‘erſten
) Erſcheinung (1815) nur in einzelnen erleuchtetern und kräftigern Seelen volle
Würdigung fanden, die Jntereſſen der Geſammtheit des deutſchen Volks geworden
ſind, ſo wird ihre weitere Verbreitung auch dazu beitragen, den Zeitgeſhma> von |
der Richtung, die er genommen hat, auf den beſſern Weg zurü>zulenken. Wenn |
früher eine von dem äußern Leben faft abgefchiedene Jnnerlichkeit die Poeſie in
Gefahr brachte, in myftifchen Nebel zu verfließen, fo war es fpäter, als wollte ſich
das Gemüth ganz und gar an die Erſcheinungen der Außenwelt dahingeben und 4
in dem zerſtreuenden Wechſel flüchtig vorübereilender Bilder ſich berauſchen. Daß
ein wandernd Leben der freien Dichterbruſt gefalle, war oft gedacht und ausgeſpro-
chen worden; aber num galt jede Reife, ob nach den Bergen Tirols oder dem Sande | M
der Marken, für eine Reiſe zum Parnaß, und jeder Wanderſtab für einen Moſes- | AN
ſtab, der das kahlſte Geſtein nur zu berühren brauche, um den vollſten Springquell 1.
der echten Naturpoefie hervorzuloden. Wir erinnern hiermit an die zahlreichen |
Wanderlieder , welche die lezten Fahre hervorgebracht haben, und die mit der zu- | mu
nehmenden Wanderluſt unſerer jungen poetiſchen Welt zuſammentrafen. Niemand | Mi
zweifelt an dem Poetifchen des freien Neifelebens, und manche fchöne Blüte des en
deutichen Minnegefangs verdanken wir — wer weiß e8 nicht? — eben nur ihm. u
In unſern Tagen gaben Uhland’s Eöftliche Wanderlieder den Ton anz ihm folg- Hi
ten im deutſchen Süden der kräftig-friſhe Juſtinus Kerner, der 1825 mit einer | m
Sammlung ſeiner früher einzeln erſchienenen Dichtungen hervortrat, und im Nor- un
den der flare, ſinnvoll-ernſte, in mannichfaltigen Verkleidungen wandernde, zu früh a
verſtorbene W. Müller. Die einfache Anmuth ihrer Lieder und das innige An- ei
ſchließen derſelben an die Natur erwarben ihnen überall Freunde, erwe>ten aber Jung
auch zahlloſe Nachahmungen, die alle die Natur zur Zwieſprach auffodern und mit | Ak
Bäumen und Nachtigallen und Bergen verkehren, denen aber nur allzu haufig das iR
friſche, naturkräftige Leben ihrer Vorbilder abgeht. Vor Allem iſt es Pflicht, und A
ſomit auch hier an der Stelle, laut vor jener Einſeitigkeit zu warnen, die durch WO