636 Deutſche Literatur
wortet, daß man glauben ſollte, es gebe nichts Leichteres, als auf den Tcúmmern
des Alten ein allen Bedürfniſſen zuſagendes, den Rechten Aller entſprechendes
Neue mit einem Schlage hervorzuzaubern. Zwiefach wilikommen müſſen, ſolcher
Dünkelhaftigkeit gegenüber, die Bemühungen Derer ſein, die es ſich zum Geſchäft
machen, die großen Fragen der Zeit an der Hand der Geſchichte und der ernſtern
Forſchung mit Unbefangenheit und geiſtiger Freiheit zu Löfen. Wir rechnen hierher
außer mehrem dahin Einſchlagenden von Friedrich von Raumer, insbeſondere ſein
durch hiſtoriſchen Geiſt und gründliches Urtheil ausgezeichnetes Buch : „Über die
geſchichtliche Entwi>elung der Begriffe von Recht, Staat und Politik“ (zweite
Auflage 1832), die ſtaatswiſſenſchaftlichen, aus beſonnenſter Kritik hervorgegan-
genen Werke des fleißigen Pôliß um ſo mehr, da ſein Syſtem der Reformen, wie
er es wiſſenſchaftlich in den „Staatswiſſenſchaften im Lichte unſerer Zeit“ (1827),
und gemeinfaßlicher dargeſtellt in ſeinen „Staatswiſſenſchaftlichen Vorleſungen“
(1832) niedergelegt hat, auf die Belebung des conſtitutionnellen Geiſtes in Deutſch-
land unleugbar von dem fruchtbarſten Einfluſſe geweſen iſt. Daneben ſollen jedoch
auch die Verdienſte Anderer, hauptſächlich einiger ſüddeutſchen Gelehrten, wie
Zachariä's (deſſen „Vierzig Bücher vom Staate“ mit dem fünften Bande nun
zu Ende geführt worden ſind), Rotte>'s, Weigel's (ſein neueſtes Werk: „Ge-
Thichte der Staatswiffenfchaft”, 1832) und Anderer nicht verfannt werden.
Auch die große Frage Über den öffentlichen Unterricht, vornehmlich den in gelehrten
Schulen, eine Frage, die mit den Jutereſſen der Gegenwart auf das Junigſte zu-
ſammenhängt, ward aufs Neue, hauptſächlich dur Thierfch, angeregt. Noch find
die Acten nicht geſchloſſen, ſondern nur unter dem Andrange mächtigerer Jntereſſen
auf die Seite gelegt; aber der geſunde Sinn der Deutſchen läßt hoffen, daß er nicht
ferner, wie freilih hie und da ſchon geſchehen iſt, das Kind mit dem Bade aus-
hütte, ſondern auch hier die rechte Mitte finden werde.
Der Politik gleich that es auch die Kunſt; auch ſie fragte wenig nach der Phi-
loſophie und ihrer Führung, und dieſe ſelbſt ſchien eben nicht geneigt, ihr die verſchmäh-
ten Grundfäge aufzudeingen. Die Männer der Schule, denen es Bedúrfniß war,
Poeſie und Philoſophie in ihrer Einheit zu erfaſſen, begnügten ſich, die Lehren ihrer
Meiſter in bereits vorhandenen poetiſchen Geiſteswerken naczzuweiſen, gleichſam als
Probe zu dem Exempel der Schule, und es iſt bekannt, wie weit namentlich einige
Schüler Hegel's darin gingen. Jnsbeſondere waren es die Werke Göthe’s, vorzüglich
die geheimnißvollſte und großartigfte feiner Dichtungen, der „Fauft“, an denen der
philoſophiſch-grübelnde Scharfſinn, oft wunderlich genug, ſich übte. Die myſtiſche
Schule mochte nicht zurü>bleiben, und mit Erſtaunen ſah man, wie ſogar der Ver-
ſuch gemacht wurde, in dem ebengenannten Gedichte die Lehrfäge einer düftern
pietiftifchen Anficht mittels allegorifcher Ausdeutung aufzuzeigen. Alle diefe Ver:
fuche indeffen, felbft wenn fie gelungener ausgefallen wären, vermochten der Cha-
tafterlefigkeit nicht zu ſteuern, in der ſich die ausúbende Kunſt mehr und mehr zu
verlieren ſchien. Überzeugt, wie wir ſind, daß dieſer nur von dem ſchaffenden Ge-
nius, nicht aus den Lehrbüchern fpeeulativer Afthetiker ein neues Heil Eom:
men könne, müſſen wir uns doh der Verſuche freuen , die in neueſter Zeit von
Mehren, wie von Chr. H. Weiße, Griepenkerl, v. Quandt und Andern gemacht
worden ſind, auf wiſſenſchaftlichern Wege die Jdee der Schönheit zu erörtern
oder tiefer zu begründen. Wie ſehr es an leitenden Grundfäsen gebricht, bez
weiſt unter Anderm ſonnenklar der gegenwärtige Zuſtand der deutſchen Kritik.
Wir wagen es zu behaupten, daß dieſelbe ſeit Bodmer’s „Malerdiscurfen”, de-
nen mindeſt ein reges Jutereſſe für die Sache und eine Ahnung von Principien
nicht abgeſprochen werden kann, wenige Ausnahmen abgerechnet, nie troſtloſer
behandelt worden iſt als in den legten 10 — 15 Fahren. Wir müßten weit
über die uns gefiecften Grenzen zurückgehen, um die Anfänge des eingeriſſenen
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