Full text: A (1. Band)

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die politiſche Haltung ihrer Regierungen. Napoleon ließ hiernach ſei- 
nem Verbündeten Alexander freie Hand, als es zwiſchen dieſem und 
dem Sultan zum Streite kam, weil Lebterer den Waffenftillftand 
von Slobaſta nicht halten wollte. Allein Schon im Laufe des Jahres 
1811 geſtalteten ſich die Beziehungen zwiſchen dem Hofe zu Peters- 
burg und dem franzöſiſchen Gewaltherrn immer mißliher. Das 
Kontinentalſyſt em ſchädigte den ruſſiſchen Handel aufs Empfindlichſte, 
ſo daß ein Bruch mit Napoleon und eine Schwenkung in dex Politik 
Nußlands nur noch als eine Frage der Zeit erſchien. Die An- 
näherung Englands und Schwedens an das E beſchleunigte 
die Kataſtrophe. Alexander, ohnehin verdroſſen über die Beſiknahme 
des Landes des ihm nahe verwandten Herzogs von Oldenburg durch 
die Franzoſen, beſchloß, den Uebergriſſen Napoleon's ernſtlich ent- 
gegenzutreten. Nach langen Verhandlungen und Vorbereitungen 
ward der Krieg unvermeidlich, und es begann daher, nachdem der 
Frieden von Bukareſt dem Kriege mit der Türkei ein Ende gemacht 
hatte, jener Rieſenkampf, in welchen fich über eine Million Streiter 
gegenüberſtanden und der mit der Vernichtung der {önſten Armee 
endigte, die jemals ein Eroberer in Feindesland zu führen vermochte. 
Die ſiegreichen ruſſiſchen Heere blieben keineswegs an den nach- 
barlihen Grenzen ſtehen. Vielmehr half Kaiſer Alexander im engſten 
Bunde mit Preußen, und ſpäter im Verein mit Oeſterreich, Deutſch- 
land aus den Feſſeln der Fremdherrſchaft befreien. Den Niederlagen 
bei Großgörſchen, Baußen und Dresden folgten die Siege an der Kab- 
bad), bei Kulm, endlich die entſcheidende Völkerſchlacht bei Leipzig. 
Im Wintex 1814 drangen die verbündeten Heere in Frankreich ein, 
und nach mancherlei Wechſelfällen kampirten die erſten Koſaken Ende 
März auf den E lyſäiſchen Feldern der Hauptſtadt. Durch Schonung 
und Nachgiebigkeit im Frieden von Paris bewies Alexander ſeine 
Großmuth und durch die Mannszucht, welche ſeine Armeen einhiel- 
ten, feine Humanität, es E Franzoſen ihm enthuſiaſtiſch zu- 
gethan waren. Damals gehörte A. zu den geprieſenſten Fürſten. 
Wiederholte ſi<h au< der Jubel der Franzoſen keineswegs, als fie 
ihn nach der zweiten Niederwerfung des von Elba zurückgekehrten 
Napoleon im Jahre 1815 von Neuem in ihre Hauptſtadt einziehen 
ſahen, ſo konnte ſih Alexander doch damit tröſten, daß ihn die Eng- 
länder mit außerordentlicher Begeiſterung begrüßt hatten, als er 
im Vorjahr auch ihnen cinen Beſuch abgeſtattet hatte. — Die Wand- 
lungen der Menſchen und Verhältniſſe, die unter ſeinen Augen ſich 
vollzogen, verſebten den gefühlvollen Monarchen in eine ernſt-religiöſe 
Stimmung, welche eine der merkwürdigſten Frauen ihrer Zeit, 
Juliane von Krüdener, benubte, um den Zaren für eine religiös- 
myſtiſhe Richtung zu gewinnen, die im Laufe der Jahre deſſen Ge- 
müth immer mehr verdüſterte, ſeine bisherige Be des Wir- 
kens verſheuchte und ſeine Seele mit Mißtrauen gegen die Freiheit 
athmenden Strömungen der Zeit erfüllte. Unter Einwirkung dieſer 
Stimmung ftiftete der Kaiſer die Heilige Allianz, welche den 
ewigen Frieden herbeiführen und die Regierungen veranlaſſen ſollte, 
ihre Unterthanen mit Milde, den Grundſäßen des Chriſtenthums 
gemäß, zu regieren. Dieſem Bündniß traten die Souveräne von 
Preußen, Oeſterreih und faſt «lle übrigen Monarchen, mit Aus- 
nahme des Königs von England, des Sultans und des Papſtes, bei. 
Leider gereichte dies jedoch denen nicht zum Segen, welche man be- 
glücken wollte, denn von der unterdeſſen emporgekommenen Reaktion 
ward der Bund dazu benußt, die Freiheit der Völker zu unterdrüden 
und die thnen gemachten Verſprechungen zu verkümmern. 
Nach Rußland zurückgekehrt , nahm Alexander auf kurze Zeit wie- 
der ſein Reformwerk aufz die ſteigende Unruhe der Gemüther und 
große Erwartungen, die jchwer zu befriedigen waren, ließen die 
Sache jedoch niht vorwärts kommen. Dem Kaiſer wax auf dem Kon- 
* greß zu Wien das Königreich Polen zugeſprochen worden. Er hatte 
demſelben eine Verfaſſung verliehen und damit in dem von den 
Großmächten arg mißhandelten Lande außerordentliche Hoffnungen 
erwe>t. Auch die Ruſſen erwarteten nad) jenem Vorgange die Ein- 
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führung einer Berfaff jung, wogegen i iedos hie Altruſſiſche - Partei 
aus allen Kräften ankämpfte, da ſie von ſolchen tiefgreifenden Vex- 
änderungen den Untergang des nationalen und religiöſen Lebens 
des „heiligen“ Rußlands befürchtete. Hierdurch bedenklich geworden, 
begnügte ſich der Kaiſer damit, uur die ärgſten Verwaltungsmißbräuche 
abzuſtellen und dem leibeignen Bauernſtande neben der Gewährung 
anderer Erleichterungen Betreibung von Gewerben zu ee 
Doch nux langſam genas das Reich von den Wunden, welche der 
Menſchen und O verheerende Krieg geſchlagen; der un- 
verhältnißmäßige Militäraufwand für ein Heer von 800,000 Mann 
verſchlang ungeheure Summen und führte ſ{ließli< zu einer Zer- 
rüttung der ruſſiſchen Finanzen, von welcher ſi< dieſelben ſeitdem 
nicht vollſtändig wieder erholt haben. Die Enttäuſchungen riefen 
unter Peſtel, Murawiew u. A. eine Menge geheimer Geſellſchaften 
hervor, deren Tendenz fich Schließlich ſelbſt gegen das Kaiſerhaus rich- 
tete, als der Zar ſi< immer mehr der verderblichen Politik Metter- 
ni<h's zuwandte, als auf den Kongreſſen zu Troppau, Laibach, 
Verona die Mahnrufe der unterdrü>ten Völker verhallten und die 
ruſſiſche Regierung ſi<h dem allgemeinen Fortſchrittsdrange immer 
entſchiedener widerſeßte. Zur Beſchwörung des immer lauter ſich 
äußernden Mißvergnügens griff nun die Regierung zu Maßregeln 
der Strenge. Die Cenſur ward verſchärft, die Unterdrü>ung der 
Freimaurerlogen und Miſſionsgeſellſchaften mit Eifer vollzogen , die 
Siftirung der im Gange befindlichen Reformen angeordnet. Doch 
dieſe Maßnahmen fowie alle Anjtreng gun gen der Polizei zeigten ſich 
E die um ſich greifende J Nißſtimmung zu zerſtreuen. 
Der Kaiſer ſelbſt befand ſi<h im Widerſpruch zu ſeiner ganzen Ver- 
ae mit welcher er völlig zu brechen ſi< gezwungen ſah. 
Alles Dieſes quälte und ängſtigte das ohnehin erregte Gemüth des 
wohlmeinenden Fürſten. Ex brach in Klagen über Undank und Ver- 
kennung ſeiner Abſichten aus. Der Aufftand in Griechenland, den 
der Hof Anfangs lau unterſtübte, dann aber entſchieden verurtheilte, 
brachte die Regierung in immer fchrofferen Gegenfat zur öffentlichen 
Meinung und zu den laut ausgeſprochenen Sympathien der ganzen 
Nation. Dazu trat der Tod der einzigen natürlichen Tochter des 
Zaren, der Jammer einer furchtbaren Ueberſhwemmung, die Peters: 
burg heimſuchte, endlich die Furcht vor der um ſich greifenden ruſſiſch- 
polniſchen Verſhwörung. Dieſe Umſtände laſteten wie ein Alp auf dem 
Gemüthe des leidenden Monarchen. Jm September 1825 begleitete 
er, in der Hoffnung, die verlorene Ruhe und Heiterkeit der Seele 
wieder zu gewinnen, ſeine kranke Gemahlin (Eliſabeth, vorher ae 
Marie Auguſte, Prinzeſſin von Baden, mit welcher er ſeit 1793 in 
kfinderloſer Ehe lebte) nah Taganrog. Auf der Weiterreiſe E der 
Krim ward ex jedoch von einem, dieſem Lande eigenthümlichen, bös- 
artigen Fieber ergriffen und erlag demſelben am 1. Dezember (18. 
Novbr. nach ruſſ. Styl) 1825. Kurz vor ſeinem Tode ſoll er noh 
ausführliche Kunde erhalten haben über die Einzelheiten der auch 
gegen das Kaiſerhaus gerichteten ruſſiſch - polniſchen Verſhwörung, 
mit deren Unterdrückung ſein Bruder und Nachfolger Nikolaus I. 
ſein Regiment antreten mußte. Man hat dem Kaiſer zum Vorwurf 
gemacht, er habe infofern zum Ausbruc jener Militärrevolte bei- 
getragen, als er es unterlaſſen habe, die hinſichtlih der Thronfolge 
mit feinem: Bruder Konſtantin getroffenen Vereinbarungen wenig- 
ſtens den höchſten Neichsbehörhen zu offenbaren. Darüber mag ihn 
eben der Tod überraſcht haben. — Unter der Regierung des Kaiſers 
A. trat Rußland eigentlich erſt in die europäiſche Völkerfamilie ein. 
Das rieſige Reich ward dur<h Erwerbung des Königreichs Polen, 
dur< Gruſien, Bialyſto>, Schirwan, Beſſarabien und Finnland, 
um 10 Millionen Einwohner vermehrt, und ſeine Hülfsquellen er- 
weiterten ſih in demſelben Maße. Dem Andenken des milden und 
menſchenfreundlichen Kaiſers Alexander I. ſind mehrere Denkmale 
errichtet le das bekannteſte derſelben iſt der große und prächtige 
Obelisk auf dem Jſaakplaße zu St. Petersburg, ein Meiſterwerk 
des Architekten Montferrant. (Siehe „Alexanderſäule“.) 
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