659 Anilin
Anilin. Unter den mancherlei Stoffen, welche durch raſtloſe Thä-
tigkeit der Chemiker aufgefunden worden, hat wol keiner in der lebten
Zeit eine ſo hohe induſtrielle Bedeutung erlangt, wie das Anilin;
dieſer Stoff, der vor noh etwa 10 Jahren nur als ſeltenes Präpa-
rat in <emiſhen Sammlungen zu finden war, iſt jezt die Grundlage
eines der bedeutendſten Zweige der Farbenfabrikation geworden.
Das Anilin wurde zuerſt 1826 von dem Chemiker Unverdorben
in Dahme unter den Produkten der Deſtillation des Jndigo gefunden
und von ihm mit dem Namen Kryſtallin belegt. Jm J. 1833 fand
Runge in Oranienburg unter den Beſtandtheilen des Steinkohlen-
theers- einen Stoff, den er Kyanol (Blauöl) nannte, weil der neue
Körper, mit Chlorkalklöſung zuſammengebracht, eine prächtig blau-
violette Färbung annahm. Beide Stoffe, das Kryſtallin Unver-
dorben's und das Kyanol Nunge’s, wurden durch ſpätere Arbeiten
anderer Chemiker als identiſ<h erkannt, desgleichen auch das von Zinin
(1842) aus dem Nitrobenzol erhaltene und von ihm Benzidam ge-
nannte Produkt. Fribßſche in Petersbuïg, der 1841 das aus dem
Indigo erhaltene Produkt näher ftudirte, ftrich den Namen Kryſtallin
u. nannte den Stoff „Anilin“ (Anil=Jundigo), welcher Name, nach
Feſtſtellung der Identität fammtlicher hier genannter, auf verjchiede-
nem Wege erhaltenen Körper, denn allgemein angenommen wurde.
— Die Darſtellung des Anilin aus dem Indigo wäre für Die
Induſtrie zu koſtſpielig, ebenſo iſt die Abſcheidung aus dem Stein-
fohlentheer, welcher nur !/2 bis !/, Prozent Anilin enthält, zu um-
jtändfih. Man benubt daher zur Bereitung im Großen jeßt allge-
mein das Nitrobenzol (|. d.), das man aus Benzin, einem andern
Beſtandtheile des Steinkohlentheers, herſtellt ; hierbei kommt jedoch
niht das oben angeführte Verfahren von Zinin in Anwendung,
ſondern das von Béchamp, nad) welchem gleiche Theile Nitrobenzol
und Eſſigſäure in gußeiſernen Gefäßen gemiſcht und mit Eiſenſeile
zuſammengebracht werden. Es deſtillirt hierbei eine braune Maſſe
über, welche einer no<maligen Deſtillation mit Kalk unterworfen
werden muß. Das ſo erhaltene Produkt iſt jedoch noch nicht das
chemiſch reine Anilin, ſondern der Hauptſache nah ein Gemenge von
Anilin und Toluidin z; zur Farbenfabrikation iſt es jedoch vollfommen
geeignet und daher eine weitere Reinigung und Trennung überflüſſig.
Dieſes Produkt kommt unter dem Namen Rohanilin oder Anilinöl
in den Handel und iſt eine ſ<hwa< bräunlich gefärbte, dur<hſichtige,
ölige Flüſſigkeit, die ſich allmählig dunkler färbt und einen eigen-
thümlichen, niht angenehmen Geruch befist. Das chemiſch reine
Anilin wird in der Farbeninduſtrie niht verwendet ; es beſteht aus
einer farbloſen, öligen Flüſſigkeit von ſ<hwa<h aromatiſhem Geruch,
wird an der Luft allmählig braun und verharzt; in Waſſer iſt es
wenig löslich, wohl aber leiht in Alkohol oder Aether, ſeine Löſungen
reagiren ſ<wa<h alkaliſ<. Reines Anilin beſteht in 100 Theilen
aus 77,42 Th. Kohlenſtoff, 15,06 Th. Sticfſtof} und 7,52 Th.
Waſſerſtoff und bildet (gleih dem Ammoniak), in Verbindung mit
Säuren, leiht kryſtalliſirbare, farbloſe Salze, ſogenannte Anilin-
ſalze. Man kann es in der That auch als ein Ammoniak be-
trachten, in wel<hem ſi< ein Aequivalent Waſſerſtoff dur< das
Kohlenwafferftoffradital Phenyl erjeßt findet, und hiernach nennt
man das Anilin zuweilen aud Phenylamin. — Das Toluidin,
welches in dem rohen Anilinöl ſtets enthalten und zur Bildung der
Farbſtoffe ſogar nothwendig iſt, beſteht in vollkommen reinem Zu-
ſtande aus farbloſen, tafelförmigen Kryſtallen von ſtarkem aromati-
ihen Geruch, ſ{hmilzt ſhon bei 40° C. zu einer öligen Flüſſigkeit
und verhält fich im Uebrigen dem Anilin ähnlich, indem es mit den
Säuren ebenfalls Salze, die Toluidinſalze (oder Benzylaminſalze ),
bildet. — Das zux Bereitung der Farben dienende Nohanilinöl hat
nun, je nachdem es aus mehr Toluidin oder aus mehr Anilin be-
ſteht, einen verſchieden hohen Siedepunkt; reines Toluidin ſiedet
erſt bei 198° C. reines Anilin dagegen ſhon bei 182° C. Für die
Praxis iſt aber die Beſtimmung des Siedepunktes vom Nohanilin
von Wichtigkeit, inſofern man je nah Art der zu gewinnenden Farbe
verſchieden hohe Siedepunkte anzuwenden hat. Obwol nun, wie
Anilin 660
ſhon erwähnt, der Chemiker Runge zuerſt herausfand, daß Anilin
mit Chlorkalklöfung ſi violett färbt, ſo ward doch dieſer Erfahrung
für die Praxis keine Beachtung geſchenkt. Erſt die Entde>ung des
Profeſſor A. W. Hofmann Gebt in Berlin) i. 3. 1858, daß nämlich,
durch Einwirkung von Chlorkohlenſtoff auf Anilin ſich eine jchön rothe
Tarbe bildet, gab der Induftrie einen mächtigen Anftoß, auf ent-
\ſprechendem Wege neue Farbſtoffe herzuſtellen. Der Erſte, welcher
den rothen Farbſtoff in großem Maßſtabe fabrizirte, war Verguin ;
er benußte dazu das Zinnchlorid. Von den vielen anderen, ſpäter
in Vorſchlag gebrachten Mitteln, die rothe Farbe aus dem Anilinöl
zu erzeugen, wird jezt am meiſten die Behandlung mit Arſen-
ſäure (nah Medlock) angewendet, weil man hiermit die größte Aus-
beute erhält. Die Farben, welche man überhaupt bis jeßt aus dem
Anilin dargeſtellt hat, ſind: 1. Anilinroth, 2. Anilinviolett, 3. Anilin-
blau, 4. Anilingrün, 5. Anilingelb, 6. Anilinbraun und 7. Anilin-
ihwarzz fie kommen theils in tro>enem, zuweilen ſehr hön kryſtalli:
ſirtem Zuſtande, theils als Teig oder in Löſung als Flüſſigkeit in
den Handel. Nur das Anilinſ<hwarz muß auf den Zeugen ſelbſt, die
man damit färben will, hervorgerufen werden. Was die einzelnen
Farben ſelbſt betrifft, ſo führt zunächſt das Anilinroth oder Fuchſin
auch die Namen Azaleïn, Mauve, Solferinoroth, Magentaroth,
Noſeïn, Tyralin u. a.; es iſt die Verbindung einer Baſis, welcher
A. W. Hofmann ‘den Namen Noſanilin gegeben hat, mit einer
Säure, gewöhnlich Eſſigſäure oder Salzſäure. Die Baſis ſelbſt iſt
farblos, ihre Salze jedoch befißen in kryſtalliſirtem Zuſtande ein
prachtvolles, metalliſ<h grün glänzendes Ausſehen und löſen fich mit
ſ{ön rother Farbe in heißem Waſſer, au<h in Alkohol. Das Ani-
linroth färbt Wolle und Seide direkt, ohne vorheriges Beizen;
Baumwolle dagegen erfordert zuvor eine Behandlung mit Kleber
oder Oelbeize (Miſchung von Pottaſche und Baumöl). Zum Färben
von Limonaden, Likören, Eis u. dgl. darf man nurx ganz axſenfreies
Fuchſin verwenden. Das Anilinviolett, welches jezt meiſt nach der
Methode von Perkins in London dur<h Behandlung von Anilinöl mik
<romſaurem Kali und Schwefelſäure dargeſtellt wird, hat auch die
„Namen Harmalin, Indiſin, Anileïn, Phenameïn, Violin, Noſolan,
Mauveïn erhalten. Gegen Wolle, Seide und Baumwolle verhält
ſi das Anilinviolett ähnlich wie das Anilinroth, nur ſind die Farben
weit echter als bei leßterem. Der Farbſtoff iſt ſehr ergiebig ; mit
einem Pfund wird man wenigſtens 50 Pfund Wolle mehr oder
weniger lebhaft ſärben können. Ferner das Anilinblau, au< Azulin
oder Azurin genannt, wurde zuerſt von de Laire und Girard 1861
gewonnen, indem ſie ein Gemenge von Fuchſin und Anilinöl einige
Stunden lang erhißten und die Miſchung dann mit Salzſäure be-
handelten. In tro>enem Zuſtande iſt dieſes Produkt blau und
fupferglänzend; es kam unter den Namen Bleu de Paris oder
Bleu de Lyon in den Handel. Dur< Behandlung mit Schwefel-
ſäure und dur< nachherigen Zuſaß von Waſſer erhält man daſſelbe in
einer löslihen Form, in welcher es Bleu soluble heißt. Man hat
auch noch weitere blaue Farbitoffe aus Amilin, die je nach der Be-
reitung etwas abweichende Eigenſchaften bejisen und auch andere
Namen führen, jo das Bleu de Mulhouse, da3 Bleu de Parme,
das Bleu de lumière oder Bleu de nuit, leßteres ſo genannt, weil
es auch bei Kerzenlicht, wie bei Tage, rein blau erſcheint. — Das
Anilingrün oder Emeraldin iſt in neuerer Zeit ſehr in Aufnahme ge-
kommen, da es auh bei künſtlihem Licht eine rein grüne Farbe
zeigt. Man unterſcheidet zwei Hauptarten dieſes Farbſtoffes, das
Aldehydgrün und das Jodgrünz; erſteres entſteht infolge der Ein-
wirkung von Aldehyd auf jchwefelfaures Nofanilin, das mit Schweſel-
ſäure verſebt iſt, lebteres infolge der Behandlung des Roſanilin
mit Jodmethyl. — Weiterhin kann auch das ſogenannte Anilingelb
auf verſchiedene Weiſe dargeſtellt werden ; daſſelbe heißt auh Chrys-
anilin und färbt Wolle und Seide ſehr ſ{hön gelb, wird jedoch
weniger als die anderen Farbſtoſſe verwendet. Sehr beliebt dagegen
iſt das Anilinbraun geworden, welches zugleich den Namen Havanna-
braun führt. Daſſelbe wird dur< Erhißen von Anilinviolett und