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> Dr. Ferdinand Stamm.
und nähen mit dem felbftgefponnenen Faden in die felbftgewebte Leinwand Zeich-
nungen, derenZüge an die Runen mahnen, und verfertigen Spitzen, welche nachzu-
ahmen noch keinem Fabrikanten eingefallen ift.
Die Chinefen, welche zu 400 Millionen Seelen, mehr als ein Drittel der
ganzen lebenden Menfchheit, zählen, brauchen fich nicht erft durch ein Prohibitiv-
fyftem vor der Ueberfluthung der Schweizer Mafchinen-Stickwaaren zu fchützen, ihre
Handftickerei in bunten Farben, auf beiden Seiten des Stoffes von gleichem Anfehen,
wird wohl noch lange von der Stickmafchine unangefochten bleiben, denn nach
ihrer jetzigen Einrichtung kann diefe die Fäden nicht fo leicht wie die Hand nach
verfchiedenen Farben aufnehmen und abreifsen und noch weniger das Ende der
Fäden fo vernähen, dafs man es in der Zeichnung nicht bemerkt.
Nahezu der ganze Orient, dann Rufsland, auch Spanien, Italien, Griechen-
land find noch unberührt von diefem Wettkampfe der Mafchinen und haben in der
Hausinduftrie der Frauen eine uralte Technik und ererbte Formen und Eigen-
heiten der Zeichnung bewahrt, welche wenigftens mit den Formen ihres Kunft-
ftiles übereinftimmen.
Wir wollen nun zunächft die
Handftickerei
in Betrachtung ziehen und hier von der Hausinduftrie ausgehen. Wir beginnen mit
China, das in feinen ausgeftellten Buntftickereien die Aufmerkfamkeit der fach-
kundigen Frauen unter den Befuchern der Ausftellung am lebhafteften anregte
und auch verdiente.
Die Technik, die Zeichnung und die Farbe ift daran hervorzu-
heben. Der Grund, worauf die bunten Stickereien ausgeführt werden, ift entweder
ein glatter Stoff, Atlas und glatte Seide, oder ein fehr feiner, aber fchütterer Stoff
nach Art des Stramins. Auf dem glatten, dichten Stoffe werden die Zeichnungen
mit den gewöhnlichen Stichen ausgeführt, eigenthümlich ift nur der mannigfache
Wechfel des Stiches bei derfelben Stickerei, um nach der Art des gezeichneten
Gegenftandes verfchiedene Wirkungen hervorzubringen. Mit Vorliebe bringt die
chinefifche Stickerin die Zeichnungen von Federn und allerlei Geflügel, dann von
Schmetterlingen, weniger von Blumen, welche wieder bei den abendländifchen
Frauen den gewöhnlichen Gegenitand der Zeichnung bilden.
Diefe Wahl ift zu loben. Die Vögel und Schmetterlinge haben reichere
und glänzendere Farben als die Blumen, und die Feder läfst fich in der Stickerei
täufchend nachahmen, indem man die zarten Fafern des Bartes der Feder durch
lange Stiche in derfelben Richtung dartftellt.
Der fliegende Vogel ift auch auf einer Tapete und auch auf einem Gewand-
ftücke, zweckmäfsig angewendet, ein gerechtfertigtes Motiv.
Der fchüttere Stoff, auf welchen die Chinefen fticken, unterfcheidet fich
von unferem gebräuchlichen Stramin durch feine Feinheit. Während die abend-
ländifchen Frauen einen Stramin zur Tapifferie anwenden, welcher 3 bis 6 Fäden
auf den Centimeter oder 6 bis ı2 Fäden auf den Wiener Zoll hat, zähle ich auf
dem vor mir liegenden gazeartigen Stoff, worauf eine chinefifche Stickerei aus-
geführt ift, 17 Fäden auf einen Centimeter oder 38 Fäden auf den Wiener Zoll.
Auf diefem feinen Stoffe ift die Stickerei nach Art der Tapifferie oder Stramin-
ftickerei ausgeführt, aber immer fo, dafs die Zeichnung und Farbe auf beiden
Seiten des Stoffes gleich erfcheint. Das ift nur möglich, indem jedes Fadenende
gut vernäht, das heifst, durch wiederholte Stiche unter den aufliegenden Faden
verfteckt wird. Es gibt chinefifche Stickereien von einer Feinheit, dafs man wie
bei ihren Filigranarbeiten oder Elfenbein-Schnitzereien glaubt, fie feien unter der
Loupe gearbeitet.
Die Eigenthümlichkeiten der chinefifchen Zeichnung find bekannt. Die
Ornamente find fonderbar verzerrt oder eine ängftliche Nachahmung von fremd-