210 Zweiter Theil. Zweites Buch. Die Kirche und der häretiſche Aberglauben 2c.
zur herrſhenden Meinung geworden. Nachdem nun die Täuſhung nah
Ablauf der gefürchteten Zeit eine ebenſo allgemeine geworden , befeſtigte
ſih die unchriſtliche Geſinnung umſomehr, als man den Glauben an die
Göttlichkeit der heiligen Schrift zu bezweifeln einen Grund zu haben
glaubte. Zu der Verachtung gegen die heilige Schrift geſellte ſi< au<
eine niht geringe Mißachtung der kirhlichen Autorität und deren Ver-
treter: Papſt, Biſchöfe und Prieſter. Unſere gegenwärtige Zeit bietet uns
ein theilweiſe analoges Beiſpiel. Nah Beendigung des großen deutſh-fran-
zöſiſchen Krieges von 1870—1871 überſhwemmte der Milliardenſegen das
fiegreiche Deutſchland. Das ganze Volk war von der Meinung erfaßt und
durchdrungen, daß ein wahres Füllhorn materiellen Segens über den
Rhein hinüber \ih ergoſſen habe. Dem Anſcheine nah war dieſes auh
der Fall. Während dreier Jahre nah dem Frievensihluffe nahmen alle
Zweige des öffentlichen Lebens, der Jnduſtrie, des Handels, einen unge-
ahnten Aufſhwung ; aber ebenſo raſh folgte das ungeahnte Ende.
Die ebenſo große und allgemeine Ernüchterung und Täuſchung rief
in den am meiſten davon betroffenen Kreiſen der Arbeiter und Hand-
werker eine ſtarke Verbitterung hervor, welche ſich zunächſt in der offenen
Unzufriedenheit mit den ſtaatlichen Einrichtungen niht weniger, wie mit
den riſtlihen Anſchauungen und Lehren offenbarte. Das gab den
näheren Anſtoß zum Hervortreten der anarchiſchen Partei, der |. g,
Socialdemokraten.
‚Gegen Ende de3 zehnten und Anfang des elften Jahrhunderts
wareu an verſhiedenen Punkten des Abendlandes ſectireriſhe Meinungen
bemerkt worden, melde den alten Manichäis8mus in verſchiedener
Form reproducirten!). Jm elften chriftlichen Jahrhundert fanden dieſe
Anſchauungen in Folge der vorher erwähnten Geiſtesrihtung einen zu
neueren Bildungen wohl vorbereiteten Boden. Alle Elemente, welche fi
der Kirche entfremdet zeigten, ſuchten eine geiſtige Verbrüderung und
Einigung herbeizuführen, gerade wie die genannte politiſch-religiöſe Secte
von heute eine internationale Verbindung im Geheimen unterhält.
Wir begegnen daher ſhon im elften Jahrhunderte den Namen ſol-
her ſectireriſhen Verbindungen, deren Au8gangspunkt der Orient war.
Der bekannteſte Name iſ jener der Katharer , die Reinen, oder auh jener
der Albigenſer. In Italien waren fie unter dem Namen der Comiſten
und Patarener bekannt. Anderwärts erhielten ſie den Namen Bugomilen,
Bulgaren, Paſſaginer und andere ?). All dieſen verſchiedenartigen Deno-
1) Die erften Spuren zeigten fich in Orlans im Hauſe des Ritters Arefarſt.
Die daſelbſt gegen die neuen Manichäer abgehaltene Synode fällt in's Jahr 1022.
cf, Hefele C.-G. IV, 643.
2) Hurters Jnnocenz III. 2, Bd, 198.