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Haben wir doch bei den Beispielen von Köln und Bonn (8. 31) gesehen, daß
die heute vorhandenen gekrümmten und malerisch unregelmäßigen Straßenzüge, wie
sie die Hohe Straße, die Schildergasse u. s. w. darbieten, im Laufe der Jahrhunderte
aus ursprünglich unzweifelhaft völlig geraden Straßen entstanden sind. Noch
größere Unregelmäßigkeiten werden nun offenbar diejenigen Straßen aufweisen
müssen, welche, wie dies wohl bei den meisten deutschen Städteanlagen der Fall
gewesen sein mag, schon ursprünglich so angelegt wurden, daß sie sich der jeweiligen
örtlichen Bodengestaltung möglichst anschmiegten und somit unregelmäßig gekrümmte
Linien bildeten.
Mögen nun aber, wie gesagt, die Alten bei der Anlage und beim Ausbau der Städte
in der einen oder anderen Weise vorgegangen sein, soviel steht fest, daß sie es meister-
haft verstanden haben, den einzelnen zu errichtenden Gebäuden in einer
vorhandenen Straße eine vorzügliche, wirkungsvolle Stellung zu geben. Dasselbe
gilt von den Gebäuden an den öffentlichen Plätzen, und zwar hier meist in noch
höherem Maße. Hier mag wohl sogar in einzelnen Fällen die vorhandene Platz-
umränderung durch den Gebäudegrundriß eine entsprechende Abänderung erfahren
haben, durch welche die Gesamtwirkung der Platzanlage nur um so reizvoller sich
gestaltete. Die Thatsache, daß von unseren Vorfahren her in der Fülle noch
erhaltener malerischer Städtebilder eine schier unerschöpfliche Quelle von vor-
trefflichen Beispielen und anregenden Gedanken auf uns überkommen ist, mag uns
für unsere Zwecke genügen. Streben wir danach, bei der Aufstellung von neuen
Bebauungsplänen den fast regelmäßig vorhandenen gekrümmten Landstraßen in ihrem
Zuge auch bei der modernen fluchtlinienmäßigen Ausgestaltung nach Möglichkeit zu
folgen, sie nicht unnötigerweise gewaltsam zu begradigen; berücksichtigen wir bei
der Projektierung neuer Straßen die (auch schon aus rein praktischen Gründen zu
beachtenden) örtlichen Bodengestaltungen*); folgen wir mit unseren Straßenzügen etwa
vorhandenen meist unregelmäßigen Wasserläufen, den Begrenzungslinien von Park-
anlagen oder dergleichen; berücksichtigen wir die Möglichkeit einer zweckmäßigen
und behaglichen Bebauung, und beobachten wir gleichzeitig die oben besprochenen
allgemeinen Schönheitsgrundsätze — so werden wir, ohne daß dabei eine überlegte
und daher leicht abstoßend wirkende Absichtlichkeit zum Durchblick kommen
könnte, für einen Bebauungsplan schon eine große Anzahl gekrümmter und inter-
essanter Straßenzüge erhalten. Vergessen wir aber auch nicht, daß daneben in
unseren modernen Bebauungsplänen auch die gerade Straße durchaus ihre Berechti-
gung hat. Und nun die Platzanlagen !
Wenn man sich bestrebt, die Zusammenführung einer Anzahl von Straßen an
einem Punkte und dadurch die Bildung jener unseligen sternförmigen Platzanlagen
zu vermeiden, von welchen Henrici meint, daß sie die moderne Nervenkrankheit
der „Platzscheu“ hervorgerufen haben könnten**), wenn man die Plätze organisch
in das System der Straßenzüge einfügt, wenn man weiter auf eine richtige Aus-
mündung der Straßen auf die Plätze bedacht nimmt derart, daß vom Platze aus
regelmäßigkeiten“, die er „erzwungene Ungezwungenheiten“ und „beabsichtigte Unabsichtlichkeiten“
nennt. „Kann man aber Zufälligkeiten, wie sie die Geschichte im Laufe der Jahrhunderte ergab,
am Plane eigens erfinden und konstruieren? Könnte man denn an solcher erlogenen Naivetät,
an einer solchen künstlichen Natürlichkeit wirkliche, ungeheuchelte Freude haben? Gewiß nicht.“
(8.2279,)
*) Vergl. hierzu beispielsweise die aus der photographischen Nachbildung der Reliefkarte
von Halle (8. 17) erkennbare Führung der Leipziger Straße und der Großen Steinstraße außer-
halb des alten Stadtkernes. Beide genannten Straßenzüge folgen als ursprüngliche alte Chausseen
in äußerst geschickter Weise den vorhandenen Terrainfalten.
**) Siehe auch: Sitte, a. a. O., 8. 583.