Borwort.
Das Thema „Die Weiße Frau“ hat mich ſeit der Kinderzeit in feinen
Bann gezwungen. Aufgewachſen an der Stammburg der Orlamünder
Grafen, wo die Weiße Frau erſcheint, habe ih mich als Kind zunächſt naiv
erlebend dem herrſchenden Volksglauben hingegeben; dann habe ich die Fort;
bildung der Sage in der Dichtung Fennen gelernt und fchließlich auf Grund
der geſchichtlichen Quellen und der fich über die legten Sahrhunderte er;
ſtre>enden gelehrten Abhandlungen ein Bild von der Entſtehung der
Sage und ihrer Verknüpfung mit den verſchiedenſten Vorſtellungen
gewonnen. Von der ungemein reichen und vielfach zerſtreuten Literatur
hebe i< im Literaturverzeichnis nur heraus, was das Problem durch
Materialſammlung, durch geſchichtliche und literarifche Stellungnahme ge;
fördert und getlärt hat, ohne daß ih auf alle Irrwege in der „Deutung“
eingehe.
Es liegt mir daran, flarzuſtellen, wie die geſchichtlihe Sage mit natur;
mythiſchen Anſchauungen verwurzelt, darum einem dauernden, von der
menſchlichen Phantaſie geſpeiſten Wandlungsprozeß unterworfen iſt, und
warum fie fo weit verbreitet und fo fief im Volke verankert iſt, Darum ſehe
ich in der vorliegenden Abhandlung einen volkskundlichen Beitrag,
wiewohl „Die Weiße Frau“ ein Ausſchnitt aus dem Problemkreis des
Dotenglaubens oder genauer aus dem Glauben des Volkes an den
„lebenden Leichnam” ift und deshalb auh auf tultur- und religions-
geſchichtliches Intereſſe rechnen darf.
Martin Wähler.