Full text: Die weiße Frau

   
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Ob man, wie es mit vielen anderen Forſchern Richard Kühnau tut, fo 
ſ<le<thin von den weißen Erſcheinungen als „abgeſchiedenen Seelen“ 
ſprechen darf, erſcheint ſehr fraglich. Die in der freien Natur haufenden 
weißen Frauen oder Weibchen werden einerſeits als {ön und lieblich 
geſchildert, andererſeits aber haben ſie auch ein „verſchimmeltes“ Geſicht, 
ein „Spinnwebengeſicht“, ein „wie mit puren Spinnweben überzogenes 
Geſicht/.®) Dieſe Bilder deuten an, daß der Volksglaube dieſe „Geſpenſter*) 
durchaus körperlich ſieht, wenn fich au< {on Spuren des Verfalles im 
Geſicht bemerkbar machen. Von dieſen Verſtorbenen, dieſen Leichen, die 
noch nicht verweſt ſind, nimmt das Volk allerdings an, daß ſie noch leben 
und als Geſpenſter wiederkommen. Dieſer Glaube findet fich in der ganzen 
Welt, zu allen Zeiten, in der altnordiſchen wie in der chineſiſchen Denkweiſe. 
Leichen, die nicht verweſen, kommen bei Nacht aus den Gräbern und gehen 
um. Es handelt ſich, wie Hans Naumann!%) in ſeiner Primitiven Gemein- 
ſchaftsfultur Elargelegt hat, — nachdem {on Ethnologen wie Andree, 
Negelein und Ankermann, Prähiſtoriker wie Götze, Rechtshiſtoriker wie 
Schreuer und Germaniſten wie Ne>el und Mogk zu ähnlichen Anſchau- 
ungen, denen Naumann allerdings eine größere Ausdehnung und Trag- 
weite gab, gekommen waren!) — um den Glauben des Volkes an den 
„lebenden Leichnam“. 
Ohne dieſen alten, primitiven TDotenglauben iſt auh das Problem der 
Weißen Frau nicht verſtändlih. Der Glaube der Naturvölker auf der 
unterfien Stufe kannte und kennt den Seelenbegriff nicht; ebenſo ſpricht 
der Primitive nicht von den Geiſtern der Toten, fondern einfach nur von 
den Toten. Seele, Geiſt ſind ihm abſtrakte, unfaßbare Begriffe, die er zu 
vergegenſtändlichen ſucht. Er klammert ſich an die Materie. Einen Dualis- 
mus von Leib und Seele erkennt er niht an. Genau fo ift dem heutigen 
Volksmenſchen, der im Leben mit ſeinem ganzen Denken und Trachten 
aufgeht, das Weſen des Todes unbegreiflich, er ſieht im Tod nur einen 
veränderten Zuſtand des Lebens, aus dem er — wie im Märchen — erwe>t, 
erlöft werden fann.102) Den Tod, dieſes für uns no< immer \o grauenvolle 
und mit dem Verſtande unlösbare Rätſel, begreift er nicht als das Auf; 
hören des Lebens, Wenn auch der Tote regungslos und ſtarr ift, fo erhebt 
er fich doch zeitweilig, beſonders des Nachts, und „geht um“), „Am 
*) Iſt auch Geſpenſt vom altgermaniſchen ſpanan =lo>en (ahd. = giſpenſt in der Be- 
deutung von Verlodung, Trugbild) abzuleiten, ſo mag doch das von der Sprachwiſſen- 
ſchaft unbeſchwerte Volk Geſpenſk mit ſpinnen in unſerem gewöhnlichen Sinne zuſammen- 
gebracht und ſih dementſprechend ſein Bild vom Geſpenſt gemacht haben. 
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