SCHÖLLENBACH
Diese Nachrichten des älteren Historiographen des Hauses Erbach ergänzt
dessen neuester Geschichtschreiber, G. Simon, auf Grund eines aus dem 15. Jahr-
hundert stammenden Nachtrages zum Lehnsalbuch des Schenken Eberhard IX von
Erbach, auf S. 105 seines 1858 erschienenen Werkes, in nachstehender Weise:
»Im J. 1465 erbaute hier Schenk Philipp IV von der Erbacher Linie wegen
eines hier in Schöllenbach sich befindenden Marienbildes, zu welchem wegen seiner
wunderthätigen Eigenschaften ein grosser Zulauf von Wallfahrern stattfand, mit Ge-
nehmigung des Erzbischofs Adolf von Mainz eine Kapelle, an welcher ein eigner
Priester angestellt wurde. Am 8. September 1465, als am Feste Mariä Geburt,
wurde dieselbe von Siegfried, Bischof von Cyrene, eingeweiht, und der der Jungfrau
Maria geweihte Altar mit Reliquien des Apostels Petrus und der heil. Ursula ver-
sehen. Im J. 1474 wurde die Stiftung einer besondern Pfründe in Schöllenbach
von dem Erzbischofe von Mainz bestätigt, im J. 1480 aber, am 2g. Juni, auf
St. Peter und Paul, wurden noch zwei Altäre in der Kapelle geweiht, der eine zur
Linken zu Ehren der Heiligen Antonius und Erasmus, der andere zur Rechten zu
Ehren der heil. Catharina und Barbara. Der Weihbischof Johannes von Termopyla,
der diese Ceremonie verrichtete, bestimmte zugleich den Tag der Apostel Petrus
und Paulus zum Erinnerungstage an die Einweihung des Gotteshauses.«
Hiernach wird kaum ein anderes älteres Sakralgebäude im Kreise Erbach
einer gleich eingehenden Geschichte über seine Gründung, Weihung und Widmung
sich rühmen können, wie das von hohem Waldgebirge umgebene Marienkirchlein
am Ausgang der Euterschlucht zu Schöllenbach. Schwere Schicksale sind im Laufe
der Jahrhunderte über das Gotteshaus hereingebrochen. Schon unser älterer historischer
Gewährsmann sah das Gebäude in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts als
Ruine. Die Umfassungsmauern standen zwar noch in ihrem ganzen Umfang aufrecht;
aber sie starrten dachlos in die Lüfte. War das Kirchlein ein Opfer der Zerstörungs-
wuth im dreissigjährigen Kriege geworden, oder hatte in Folge von Vernach-
lässigung die Zeit daran genagt? Wir wissen es nicht. Nach D. Schneider’s Tagen
fiel das Langhaus in Trümmer und wurde der Erde gleich gemacht. Auf die Gegen-
wart ist nur der Chor gekommen, welcher gegen Ende des 18. Jahrhunderts, behufs
Wiedereinrichtung zu gottesdienstlichem Gebrauch, die jetzige westliche Abschluss-
mauer, die Bedachung und das Dachreiterthürmchen erhielt, aber auch manche
stilwidrige Veränderung sich gefallen lassen musste. — Das Glöckchen im Dach-
reiter, von Lucas Speck in Heidelberg gegossen, stammt erst aus dem Jahre 1807.
Beschreiben wir den erhaltenen Chor und suchen wir mit Hilfe von struktiven
Merkmalen und zerstreut umher liegenden Werkstücken auch eine annähernde Vor-
stellung vom verschwundenen Gesammtbau zu gewinnen. — Der in neuerer Zeit
zu einem in sich beschlossenen Kapellenraum wieder eingerichtete Chor (Fig. 125)
trägt — wie schon das Gründungsjahr 1465 nahelegt — das Gepräge desjenigen
Stadiums der Entwickelung gothischer Architektur, in welchem die Reinheit und
Strenge des Stiles allmählig sich verlor und struktiv wie dekorativ einer minder
gesetzmässigen Richtung zu weichen begann. Die Abmessungen betragen rund IO
zu 8 m Länge und Breite. Das Chorhaupt ist dreiseitig aus dem Achteck gestaltet
Chor
= f