206 EHEMALIGER KREIS WIMPFEN
Bausystems von deutscher, französischer, englischer, italienischer Gothik als be-
sonderen Richtungen des Stiles reden, die wir füglich als Dialektformen der Wurzel-
sprache des Spitzbogenstiles bezeichnen können. Das vielumstrittene Wort opus
francigenum ist daher — zumal aus dem Zusammenhang herausgerissen — keines-
wegs als Zeugniss für eine zeitgenössische Auffassung von der » Üebersiedelung des
sogenannt gothischen Stiles aus Frankreich nach Deutschland« anzurufen, ge-
schweige denn als Beweis für eine vom gothischen Umbau der Stiftskirche im Thal
ausgegangene »durchaus neue und eigenartige Kunstrichtung in Deutschland.
Das Bauwerk erhielt vielmehr ganz zufällig durch die Einwirkung eines mit gefüllter
Studienmappe aus Frankreich zurückgekehrten Künstlers das gemischte Gepräge
deutscher und französischer Werkart und steht in dieser Doppelweise der V ollführung
als vereinzelte Erscheinung da, die im gleichen Umfang ihres verschieden gearteten
gothischen Formenausdruckes ohne Nachfolge in Deutschland geblieben ist.
In gewissem Betracht dürfte auch die Thatsache in’s Gewicht fallen, dass am
Münsterbau des Dechanten Richard von Ditensheim zwei stiftsgenössische Fachleute
thätig waren, deren Namen im Stiftsnekrolog als Cunradus sacerdos lapicida und
Bertholdus lapicida*) verzeichnet stehen.**) Ersterer war somit Priester und Stein-
metz, während der Letztere Steinmetz war, aber kein Priester sondern einfacher
Konverse d. i. Laie gewesen zu sein scheint. Sollte der Laie Berthold mit dem vom
Bauherrn berufenen Zatomus identisch zu setzen sein? Und sollen die beiden Zapzcidae
Konrad und Berthold in gemeinsamer Arbeit das Werk vollführt haben? Das sind
keine unberechtigten Fragen. Denn die Plananlage des hochmonumentalen Gottes-
hauses folgt an dem liturgisch wichtigsten Bautheil des Ganzen, nämlich in der Ge-
staltung des polygonen Chorhauptes und der damit übereinstimmenden Nebenapsiden
entschieden der Norm deutscher Gothik, während zahlreiche architektonische Einzel-
formen, vornehmlich an der Schauseite des südlichen Kreuzschiffes, von ebenso ver-
schiedener Einwirkung französischer Gothik berührt sind. Wäre auch die gesammte
Plananlage unter dem Einfluss des aus der Fremde heimgekehrten /atomus entstanden,
so würde die Ostung des Stiftsmünsters aller Wahrscheinlichkeit nach die in der
französischen Sakralarchitektur jener Zeit ganz besonders bevorzugte, reiche und
wirkungsvolle Absidialkonstruktion mit Chorumgang und Kapellenkranz erhalten
haben, und diess um so gewisser, weil der Künstler — wir werden den Nachweis
dafür weiter unten bei Beschreibung der südlichen Transeptfront erbringen eine auf
fallende Vorliebe für die auf seiner Pariser Studienreise seschauten Beispiele solcher
Anlagen besass und sein Skizzenbuch überreich damit angefüllt hatte.
Gerne würden wir grade über diese Punkte etwas Näheres von unserem
Gewährsmann Burchardus de Hallis vernehmen. Sein Schweigen kann indess nicht
befremden. Geht er doch auch über die romanische Westfassade, sowie über die
Nichtvollendung des südöstlichen gothischen Thurmes, der beiden Kreuzschiffgiebel
und der Strebebögen des Langhauses still hinweg, eine verzeihliche Unterlassung, die
*) Zaßicidae hiessen nicht nur die Steinmetzen niederen handwerklichen Schlages sondern
auch die praktisch durchgebildeten Bauhüttenmitglieder.
*#*) WVergl. L. Frohnhäuser S. 41.
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