Full text: Ehemaliger Kreis Wimpfen (A, [3])

    
  
  
   
    
    
     
  
   
   
    
   
    
   
    
  
  
   
   
     
    
    
   
  
  
  
  
  
  
   
    
    
EHEMALIGER KREIS WIMPFEN 
»scheidenden Momente jedoch, wo sich die Gothik in Deutschland zur reinsten 
»und edelsten Blüthe entwickeln sollte, traten Umstände dazwischen, die bei 
»uns hemmend einwirkten und den Franzosen einen gewissen Vorsprung ver- 
‚schafften. Während in der Zeit vom Sturze des letzten Hohenstaufen bis 
»auf Rudolf von Habsburg Deutschland ein politisches Chaos bildete, erfreute 
»sich Frankreich im allgemeinen der Ruhe. Kamen Konflikte vor, so liessen 
»sie wenigstens nach einer und der anderen Seite ein bestimmtes Ziel vor 
»Augen sehen, so dass der Gedanke an grosse Unternehmungen der Bau- 
„kunst nicht ausgeschlossen war. In diese Epoche nun fällt die Anlage der 
»meisten jener grossartigen Kathedralbauten im nordöstlichen Frankreich, 
»deren geistreiche Anordnung für alle Zeit massgebend wurde und an welchen 
»sich selbstverständlich die schon bekannten, Frankreich und Deutschland 
»gemeinsamen Grundsätze des Spüzbogenstiles zur letzten und vollsten Klar- 
„heit entwickeln konnten. Diese imposanten Bauanlagen sind so recht eigent- 
»luch dem französischen Volkscharakter entsprungen, welcher stets auf die 
»Hervorbringung gewaltiger Effekte abzielt, dem gegenüber der Deutsche 
»mehr Poesie und Innigkeit seinen Kunstwerken zu geben versteht. Ausser- 
»dem, dass die Franzosen in jener Zeit durch politische Verhältnisse be- 
»günstigt wurden, fühlten sie sich aber auch zu jenen merkwürdigen 
» Architekturwerken angeregt durch den Besitz eines Baumateriales, das 
»selbst der schrankenlosesten Phantasie keine Grenzen setste. Während der 
»Deutsche sein festes und "derbes Material nur nach Ueberwindung der 
‚grössten technischen Schwierigkeiten zu erhabenen Formen bildete und Stein 
‚um Stein nach gewissenhafter Einzelvollendung zum Ganzen fügte, setzte der 
» Franzose seinen Bau aus formlosen, weichen Stücken zusammen, um ihm 
‚dann erst mit grosser Leichtigkeit durch den Meissel künstlerische Form zu 
»geben. — Wenn ich nun von diesen technischen Verfahrungsweisen auch 
»absehe und den Franzosen gerne den Vortritt in der Ausbildung des 
»Kathedralsystems zuerkenne, so muss ich gleichzeitig auf den anderen ge- 
‚walligen Unterschied hinweisen, welcher zwischen der Entfaltung einer ge: 
‚wissen Richtung innerhalb des Stiles und des Stiles im Grossen und Ganzen 
»besteht. Im Spitzbogenstil haben die Deutschen zu allen Zeiten so gut gebaut 
»wie die Franzosen. Aber das Kathedralsystem mit Chorumgang und Kapellen- 
‚kranz ist das Eizenthum der Franzosen. — An der Verwechselung dieser 
»beiden Begriffe (Spüzbogenstil in seiner prinzipiellen Entwickelung und reiche 
»Durchbildung des Kathedralbaues) scheitern die meisten Beurtheiler. Einer- 
‚seits hatten die unumstösslichen Spuren der selbstständigen Bildung des Spitz- 
»bogenstilles auf deutscher Erde Viele zu der Ansicht gebracht, die Gothik sei 
‚ausschliesslich deutschen Ursprunges, anderseits, da sich die Entwickelungs- 
»stufen des Kathedralsystems in Frankreich nachweisen lassen, sind Manche 
‚zu dem entgegengeselsten Schlusse gekommen und sprechen von ausschliess- 
lich Jranzösischem Ursprung. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Wären 
historische und teklonische Kenntnisse bei Architekten wie Kunstgelehrten 
häufiger in einer Person verbunden, so möchte auch diese Streit- 
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