Hochansehnliche Versammlung,
Verehrte Kollegen,
Liebe Kommilitonen!
Wir begehen heute einen Gedenk- und Feiertag eigener Art.
Keinen kirchlichen oder amtlichen Festtag, keinen Siegestag wie
früher für Leipzig oder Sedan, sondern nur einen Freudentag von
einst. Jetzt ist er wesentlich ein Tag ernsten Erinnerns an die
große Vergangenheit unseres Volkes. Wir gedenken der Errichtung
des neuen Deutschen Reiches vom Jahre 1871.
Gottlob das Reich besteht noch, es hat uns hinübergeholfen
über die schwere Zeit nach dem verlorenen Kriege und durch seine
Erhaltung unser deutsches Volk gerettet, aber es ist in seiner Ge-
staltung anders geworden. Das liegt in der Zeit und in den Ver-
hältnissen. Daran kann man zunächst nichts ändern wollen. Die
Pflicht des einzelnen gegen das Reich bleibt in seiner neuen Form
die gleiche. Und falsch ist es, den inneren Zusammenhang zwischen
altem und neuem Reich zu leugnen, wie es teilweise geschah.
Sofort als das gewandelte Reich in die Erscheinung trat, haben
sich die deutschen Hochschulen zusammengeschlossen, um die alt-
gewohnte Feier zum Geburtstag des neuen Deutschen Reiches von
1871 festzuhalten. Sie erfüllten dabei nur ihre Aufgabe, ruhige und
rechte Wissenschaft mit wahrer Vaterlandsliebe zu vereinigen. Es
ist ein erhebendes Gefühl, um diese Stunde uns eins zu wissen mit
den Kollegen und Kommilitonen von Königsberg bis Freiburg, von
Hamburg bis München. Und auch über das Reich hinaus, soweit
die deutsche Zunge klingt, geht in den deutschen Hochschulen
wenn auch keine äußere, doch eine innere Feier mit. Wir wollen
und werden auch weiterhin den Reichsgeburtstag festlich begehen.
Er ist nicht nur ein Tag vaterländischer Gemeinsamkeit, sondern
auch ein Tag voller innerer Gemeinsamkeit zwischen allen Gliedern
der Universität. Wir Alten und Älteren können in der Jugend
den vielfach wankenden historischen Sinn wieder wecken und
wachhalten, nicht zu einer einseitigen Bewunderung der alten Zeit,
wenn wir auch mit freudigem Stolz darauf zurückblicken können,
und zu einem gewaltsamen Zurückstreben in die frühere Zeit, sondern
zu einer gerechten Beurteilung der Vergangenheit, nicht, wie man
es neuerdings darzustellen versucht hat, zur Entfremdung gegen-
Jenaer akademische Reden. Heft 9. 4
Judeich, Der Reichsgedanke im Altertum.