Conrady: Wandgemälde — Beschreibung — Zeitgeist — Malstil 85
Gerade unter dieser Voraussetzung erklärt sich meines Erachtens nun auch
die eigenartige Form dieses „Fragezeichenliedes“ am ungezwungensten. Nur
muß man außer der Gemütsverfassung des Dichters vor allem auch die ganze
Stimmung seiner Zeit bedenken. Denn er stand ja mitten in jener gewitter-
schwülen Übergangsepoche, die schließlich einer neuen Religion, dem Buddhis-
mus, den Boden bereitet hat: der Zeit, da — wohl mit unter dem Ansturm
fremder Gedanken — der alte Glaube wankte und kecke Skepsis an die alt-
geheiligten Überlieferungen von dem unsträflichen Wandel und Walten der
Heroen griff; da auch das neue Weltbild, das sie geschaffen, noch unsicheren
Auges betrachtet wurde und man mit schweren Fragen nach Ursprung, Zweck
und Endziel alles Seienden rang. Nun sah der Dichter die Gemälde, welche
die ganze Tradition und dazu dies Weltbild entrollten (und die eben des
letzteren wegen nicht sehr alt gewesen sein können) — was Wunder, daß
ihm alle jene Fragen und Zweifel lebendig wurden, ihm, der ohnehin mit
verdüstertem Gemüt ob der unverdienten Kränkung über die Gerechtigkeit
der Weltordnung brütete, und daß es ihn drängte, sie in Worte zu fassen,
sanz wie das auch andere seiner Zeitgenossen mit solchen Zeitfragen, zum
Teil sogar in Versen, getan?!) Mußte es zugleich doch auch seine Anlage zur
Didaktik reizen, daß damit der lehrhafte Kern seiner Vorlage kräftig vor
Augen trat. Zweifellos hat sich ihm oft genug dabei auch die Parallele mit
dem eigenen Schicksal aufgedrängt; aber wie sie, gerade umgekehrt wie sonst,
nur erst sekundär hineingetragen wäre, so tritt sie ebenso auch nirgends greif-
bar hervor, und sie ist zum mindesten auch nicht die Hauptsache: die Trauer
um das Menschenlos im ganzen, der Weltschmerz war es, vor dem die per-
sönlichen Schmerzen zurücktreten mußten.
Dies ist, wie ich glaube, die Bedeutung der Zutat von Reflexion — und
es ist nur eine Zutat —, welche die Fragen dem Werke geben. Und damit
hat es der Genius des Dichters hoch hinausgehoben über das Niveau einer
simplen Bilderbeschreibung: sie ist veredelt, vergeistigt zu einer ergreifenden Il)
Klage über die Vergänglichkeit alles Großen und Guten, eine Klage, die in
ihrer Weise dem griechischen xal ta naja Üvijorei... oder Villons schwer-
mütig-schönem „Mais oü sont les neiges d’antan?“ nicht nachsteht, und zu
einem erschütternden Bilde seiner zweifelzerrissenen, sehnsüchtig nach religiöser
Klarheit ringenden Zeit.?) Es sind im wahrsten Sinne „Himmelsfragen‘“.
Bevor ich nun aber einen Blick auf ihre Bedeutung für die Kunst-
geschichte Chinas werfen kann, muß ich noch meine übrigen Zeugnisse für
die ältere Malerei mitteilen. Da wäre zunächst wohl Lü Puh-weis Beispiel von
dem Maler anzuführen, der nur auf das (einzelne) Haar achtet und darüber
das ganze Ansehen „vertauscht‘‘®) — oder „verfehlt“, wie Huai-nan-tze sagt,
der unter vielen anderen Stellen jenes Autors auch diese, wenig verändert,
ausgeschrieben hat.*) Da sie nur vergleichsweise gemeint ist, so geht daraus
1) So Chuang-tze (5[14], 21b/22a: SBE., 39, 845: Fragen über den Ursprung der
Dinge, über Naturerscheinungen u. dgl. in Versform) und Wen Chang (s. Meng-tze V, 1,
EL: V, LILRLS WW LIE BE WEN DIS VIL, 1: Fragen über Yao, Shun,
Yü, J-yin) — alles Themen, die auch die T’ien-wen bespricht und die es lehrreich ist
damit zu vergleichen. =
?2) Vol. die ähnliche Ode des Rigveda (10, 129; Übersetzung bei Öldenberg,
Buddha, 2. Aufl., S. 17/18).
3) Lü-shi Ch’un-ts’iu 25, 10a. Nach dem Worte für „Haar“ (fah) sind Menschen-
darstellungen gemeint.
4) Huai-nan-tze 17, 6a. Giles, An introduction to the hist. of Chinese pictorial art,
S.3, hat dessen Worte etwas anders (allgemeiner) aufgefaßt, s. S. 77.