Die hohe Kunst -
110 Allgemeines
Die Malerei wurde Gemeingut weiter Kreise. Nicht mehr handelt es sich
nur um eine prunkende oder sinnvolle Zierde des Kaiserpalastes oder des Tempels,
sondern um eine intime Kleinkunst der Gebildeten.
Jene innere Erhebung, die bei uns durch das Tonmeer des Orgel- und Orchester-
spiels erreicht wird, ist in Asien unbekannt. In den schlichtesten Volkskreisen Deutsch-
lands ist in den letzten Jahrhunderten das musikalische Gehör und Verständnis, viel-
leicht auf Kosten des Sehens, entwickelt. Bei der friedlichen Arbeit und im heißen
Kampfe, in ernster und fröhlicher Laune löst das Lied unsere Stimmung aus. Musik
ist uns der natürliche Ausdruck einer jeden Empfindung. Dieser Freude an der
Musik entsprechend, lernt fast jeder gebildete Europäer selbst Musik ausüben oder
bemüht sich, in Konzerten und im Theater verständnisvoll zuzuhören.
Das gedruckte Wort verbreitet dort wie bei uns die Gedanken, aber die An-
schauung einer Zeit findet in Europa ihren markantesten Ausdruck auf der Bühne,
während in China das Theater stets minderwertig gewesen ist. Es fehlt in der jahr-
tausendelangen Entwicklung der Literatur jedes klassische Drama und erst recht
eine Oper.
Wenn wir an Stelle der Musik in ähnlichem Sinne die Malerei setzen, so be-
kommen wir eine ungefähre Vorstellung davon, was dem ÖOstasiaten die darstellende
Kunst bedeutet. Jeder Gebildete dort ist Kunstkenner oder wenigstens Kunstlieb-
haber. An Stelle der stimmungsvollen Dome mit ihrem Kerzenlicht und rauschenden
Orgelspiel stehen in China unzählige schmucklose Hallen, in denen als Symbole in
vielgestaltiger Form geschnitzte oder gemalte Bildwerke verehrt werden. Jedes
wohlhabende Privathaus hat seine Ahnentafeln, seinen Hausaltar und seine Bilder.
Am ehesten können wir diese Wertschätzung der darstellenden Kunst mit der An-
schauung in der europäischen Renaissancezeit vergleichen, bevor die großen Meister
der Musik ihr Werk vollbracht hatten. In China ist die Schönheitsverehrung gleich-
sam zu einem Kult gestaltet. Zum Genießen des Kunstwerkes wird auch Ort und
Stunde, Gelegenheit und Umgebung bedeutungsvoll. Weiter unten werden wir eine
Bildrolle von Ku Kaichih (Abb. 80—84) kennen lernen. An dem Ende der Rolle ist
ein Stück Damast in der kaiserlichen gelben Farbe befestigt, auf dem unter einer
Blumenskizze folgende Worte stehen: ‚In einer feierlichen Sande: im Sommer kam
mir Ku Kaichihs Bild in die Hände, und unter seinem Einfluß malte ich in schwarzer
Tusche den Zweig von Epidendrum als Ausdruck der Bewunderung für den tief
empfundenen und geheimnisvollen Sinn des Bildes. Geschrieben vom Kaiser
(Kienlung, 1736—1796) in dem Laichingpavillon.“
Diese Ergriffenheit bei Betrachtung einer für unser Gefühl schönen, aber doch
einfachen Bildrolle und der Ausdruck nn Bewunderung in Gestalt einer Blume
können von uns nur schwer nachempfunden werden. Auch die Angabe des Pavillons
hat seine Bedeutung, es wird die weihevolle Stimmung schon durch die Wahl des
Ortes angedeutet. Eine Wagnersche Oper kann uns vielleicht so tief packen, wie es
hier die einfache Bildrolle getan hat.
Ein Volk, dessen Augen und Verstand für die Malerei derartig durch Jahr-
tausende geschult sind, wird natürlich in hervorragender Weise die feinsten Nuancen
wahrnehmen können. Das Auge des Asiaten ist infolgedessen besser vorbereitet,
um letzte Feinheiten auf seinen Bildern zu erkennen, die unserem weniger geschulten
Auge wohl immer verborgen bleiben werden. Besonders bei den Schwarzweißskizzen
sollen uns unsichtbare Zwischentöne mitklingen, die wir auf den stark verkleinerten
Reproduktionen überhaupt nicht wahrnehmen. Wir können daher nur Inhalt und
Stil, aber nicht die künstlerische Qualität des einzelnen Bildes auf den Abbil-
dungen abschätzen.
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