Full text: Vorbuddhistische Zeit. Die hohe Kunst: Malerei und Bildhauerei (Band 1)

      
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
   
    
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
    
112 Die hohe Kunst — Allgemeines 
Formensprache stehen und enttäuscht sind. Allen, die wirklich vorurteilsfrei Kunst- 
kritik üben können und wollen, rate ich, wieder und wieder die Bildchen mit Liebe zu 
betrachten, bis sie innerhalb der Eigenart der fremden Sprache die Schönheiten im ein- 
zelnen erkennen gelernt haben. Sie werden dann intime Reize in Linie und Farbe, 
in Auffassung und Komposition entdecken, die eine Bereicherung ihrer Kunstkennt- 
nisse bedeuten und zur vollen Würdigung und Schätzung der östlichen Kunst führen 
werden. 
Es sind besonders gelehrt sein wollende Fanatiker, die behaupten, daß man 
Chinesisch sprechen, die Religion und Sitten verstehen und im Lande gereist sein 
muß, um sich ein Urteil über die Kunstwerke erlauben zu dürfen. Aber wird uns 
wirklich der Pergamenische Fries oder die Laokoongruppe in ihrem Kunstwert ver- 
ständlicher, wenn wir Griechisch sprechen, die religiöse Idee verstehen und die Land- 
schaft des Aufstellungsortes kennen? Und wie sollen wir der Kunst ausgestorbener 
Völker gerecht werden können, da wir ihre Sitten niemals beobachten, oft nicht ihre 
Sprache verstehen können? 
Kunst braucht keine gelehrten Kommentare, sondern nur 
feines Gefühl und geschulte Augen, denn gute Kunst ist in 
der ganzen Welt und zu allen Zeiten innerlich immer verwandt, 
zwar nicht in dem lokalen Kolorit, wohl aber in den wirklich 
künstlerischen Qualitäten, auf die es doch in letzter Linie 
allein ankommt. 
* 
Schließlich ist die Frage zu erörtern, ob die uns bekannt gewordenen Kunst- 
schätze wirkliche Originale ihrer Zeit sind und die Meisterwerke der größten 
Künstler repräsentieren. Diese Frage muß leider völlig verneinend beantwortet werden. 
China ist das Land der ewigen Revolutionen und Eroberungen. Verheerende 
Kriege, wie der Dreißigjährige Krieg bei uns, haben wiederholt ganze Städte und 
Provinzen verwüstet, die Kaiserpaläste niedergebrannt und weite Länder entvölkert. 
Daher sind chinesische Gemälde aus der Zeit vor dem 14. Jahrhundert nur ın 
beschränkter Anzahl zufällig erhalten, und von einer systematischen Vertretung 
der vielen hundert in der Literatur aufgeführten Künstlernamen kann keine Rede 
mehr sein. 
Die alte Kunst ist durch Freskomalereien in den Tempeln Japans und Tur- 
kistans gut vertreten, und wenn es auch nicht Arbeiten für den Kaiserpalast in 
China sind, so gibt es uns doch so viel wie etwa Pompejis Provinzkunst im Verhältnis 
zur griechischen Malerei. Auch hat der Zufall einzelne Bildrollen und Rollbilder 
erhalten, die den Stil der frühen Zeit deutlich erkennen lassen. Zahlreiche chinesische 
Bilder sind in Japan seit der dortigen Renaissancebewegung im 14. Jahrhundert 
gesammelt, und viele dieser Schätze sind in meisterhaften Reproduktionen, besonders 
in der Kunstzeitschrift Kokka und den zwanzig Foliobänden von Tajima, Selected 
relics of Japanese art, bekannt gemacht. Die Signierungen dieser Bilder werden heute 
von den ernsthaften modernen Kunstgelehrten Japans teilweise angezweifelt, und 
viele der in Japan gefeierten Meister sind in den chinesischen Künstlerregistern gar 
nicht zu finden. Also nicht die in China schon damals sehr teuer bezahlten Meister- 
werke sind auf dem Inselreich erhalten, sondern Kopien, Repetitionen oder Arbeiten 
von eingewanderten Künstlern, die sich ihr Brot in Japan verdienten, oder Arbeiten 
von geringerer Güte. Dazu kommt, daß oft die Bilder schlecht erhalten sind. 
Das Fehlen der Originale bedeutet aber für China etwas ganz anderes als für 
Europa. In Ostasien ist das Kopieren, das freie Nachschaffen berühmter Werke 
und das Neuschaffen im Stile gefeierter Meister niemals verachtet, sondern ım 
Gegenteil stets angestrebt und sorgfältig gepflegt worden.
	        
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