124 Verschiedene Dynastien — 3. bis 7. Jahrhundert
die Figuren oft größer als die Berge, und die Bäume erschienen wie Menschenarme
mit ausgestreckten Fingern bei offener Hand“. Und wirklich ist der Tiger bei Ku
Kaichih sehr viele Male zu groß, und die Berge lassen jede Atmosphäre und perspek-
tivische Verkleinerung vermissen. Es sind Bergornamente, ähnlich der Auffassung
bei frühitalienischen Malern. Noch erschöpfte sich die Kunst des Künstlers in dem
Nebeneinanderstellen der kleinen Einzelheiten, aber es fehlte ihr der große, zusammen-
fassende Geist.
Waren in der Hanzeit Menschen und Tiere in der Bewegung gemalt, so wurden
sie in der Periode Ku Kaichihs mit liebevoller Kleinarbeit in ruhiger Pose als Aus-
druck einer Stimmung ausgeführt, aber noch blieb ein Baum oder ein Berg eine sym-
bolische Beigabe, ohne daß in natürlichem Zusammenhange der Mensch in der Land-
schaft lebte.
Während die Berge in der ornamentalen Reliefdarstellung der älteren Zeit
verharren, hatte die Menschendarstellung eher etwas Dekadentes, etwas Überreifes
in der Auffassung erlangt, von der es nur noch ein Zurück zu der Natur gab. Jedes
weitere Übertreiben würde die erlaubte Grenze der Stilisierung überschritten und
zur Karikatur geführt haben. Es erscheint wie ein ewiges Gesetz der Kunstent-
wicklung, daß wir dieselbe überschlanke Figur, dieselbe übermäßige Haaraufbau-
schung, dieselben übertrieben kleinen Hände in den dekadenten Zeiten des 18. Jahr-
hunderts in Japan und Frankreich finden und daß sie schon Jahrtausende vorher
im alten Kreta und dann wieder im antiken Rom vorkommen.
Die delikate Ausführung der Frauengestalten zeigt die empfindsame Natur
eines überfeinerten Lebenskünstlers. Und so wird uns auch Ku Kaichih in seinem
Leben geschildert. Ein lustiger Boh&mien! Berühmt war er für seine Dichtungen
und Malereien, aber auch für seine Narrheiten. Zahlreiche Aussprüche sind von ihm
erhalten, die von einer scharfen Beobachtung des Lebens und von geistreichen Ein-
fällen zeugen — wie seine Bilder. Er war ein Künstleroriginal, das seine eigenen
Wege ging. Bald träumte er in der freien Natur, und seine Phantasie schuf Fabel-
gestalten, bald studierte er das Leben und schilderte es in naiver Weise und in fein
beobachteter Wahrheit, dann aber wieder ergab er sich dem Studium der Magie,
die damals unter taoistischem Einfluß viel betrieben wurde.
Gleichzeitig mit der Vollendung des Stiles der linearen Figurenmalerei entstand
auch eine systematische Kunstliteratur. Hsie Ho (japanisch: Shakaku)
faßte im 5. Jahrhundert die künstlerischen Ideale der Maler in sechs Gesetze
zusammen ‚!) die bis heute die ästhetischen Anschauungen in China beeinflußt
haben.
Als erste Regel galt ihm, den „Inhalt des Empfundenen durch den
Rhythmus der Dinge“ auszudrücken. Die Gesetze der Harmonie, nach denen im
Universum die Dinge hin und her wogten, formten das Gesetz des Rhythmus in
der Kunst.
Zum zweiten kam das Gesetz der anatomischen Struktur. Um den schöpferischen
Geist in ein Gemälde zu fassen, muß die organische Form geschaffen werden. „Linien
nehmen den Platz von Nerven und Arterien ein, und das Ganze ist bedeckt mit einer
Haut von Farbe.“ Erst als drittes kommt die Übereinstimmung mit der Natur.
Aber hierunter ist nicht eine Nachahmung der Natur im europäischen Sinne zu ver-
stehen; ein derartiges Streben blieb in China stets unbekannt. Eine Übereinstimmung
zwischen dem Gesehenen und dem Gemalten, also nur eine subjektive, keine objek-
tive Wiedergabe der Dinge, entsprach dem philosophischen Geiste der Chinesen.
Dann folgen die Harmonie der Farben, die künstlerische Komposition und schließlich
') Nach Okakura, Hirth und. Giles, deren Übersetzungen im einzelnen wesentlich
voneinander abweichen.