Perspektivgesetze — West und Ost — Subjektive Impression — Mischstil 155
Das Hervorheben einzelner Personen im Bilde ist schon von den Ägyptern
und Assyrern angewendet. Dort herrschte der erzählende Inhalt des Dargestellten
über die malerische Konzeption, und deshalb erschien es natürlich, den König oder
Gott ohne Rücksicht auf die künstlerische Wirkung an einer beliebigen Stelle durch
ganz unproportionierte Dimensionen als Hauptfigur zu bezeichnen. In der euro-
päischen Kunst der konstruktiven und der Luftperspektive wird durch die Stellung
in den Vordergrund oder durch Konzentration der Lichtwirkung ein gleicher Effekt
erzielt. Der Chinese gelangt zu einer Ausführung, die gleichsam zwischen beiden
Arten steht. Er vergrößert die Dimensionen der Hauptfiguren, aber nur innerhalb
gewisser Grenzen, und konstruiert um sie das übrige Bild in sachlich erzählender,
aber harmonisch zusammenhängender Weise.
Der erste Blick zum Beispiel (Abb. 113) fällt auf das Tempelchen mit zwei
Buddhas, das durch seine geraden Architekturlinien stark im Raume hervortritt;
dann sieht man die daneben sitzenden, großen Priestergestalten, und erst von ihnen
aus gleitet das Auge nach oben und unten, wo die kleiner dimensionierten
Figuren als minder wichtiges Beiwerk erscheinen.
Durch die Größenverhältnisse und Linienführung ist eine Wirkung erzielt, die
dem Eindruck der Wirklichkeit tatsächlich entspricht. Wir sehen nicht nur mit dem
mechanischen Auge wie der Photograph, sondern zugleich mit dem geistigen,
das sich einer Reihe von Nebeneinflüssen nicht entziehen kann. Wenn wir z.B.
den heranreitenden Kaiser erwarten, So werden wir über die uns zunächst
stehenden Schutzleute und Volkshaufen, die im Verhältnis der photographischen
Kamera als Riesenfiguren erscheinen, hinwegsehen; wir werden den Vorder-
srund kaum wahrnehmen, sicher nicht in der Erinnerung behalten, sondern als
Mittelpunkt des Bildes den Kaiser empfinden. Diese subjektive Impression will
der Asiate wiedergeben, unbekümmert um die objektive Richtigkeit. Durch seine
Technik in der Wahl der Mittel begrenzt, löst er seine Aufgabe vortrefflich.
Das Auge des Beschauers wird durch die Wahl der Größenverhältnisse und
Linienführung genau auf die Punkte und in der Reihenfolge hingelenkt, die der
Maler entsprechend seinen eigenen Empfindungen erlebt hat.
Chinesisch-buddhistischer Mischstil
Unter den wenig erhaltenen Malereien des 6. Jahrhunderts hat der Zufall in
Japan ein Kunstwerk erhalten, in dem ich eine völlige Durchdringung des buddhisti-
schen Stiles mit dem nationalchinesischen erkennen möchte.
Es ist ein Reliquienbehälter,!) dessen viereckiger Aufbau durch eine gut
gegliederte Zwischenplatte in einen Unterteil mit Sockel und ein mit Türen versehenes,
oberes Schränkchen geteilt wird. Bekrönt wird das Ganze von einem imitierten
Tempeldach mit Ziegeln. Die einzelnen Flächenumrahmungen (Abb. 114) sind mit
Goldblech beschlagen, dessen Durchbrechungen jene griechische Ornamentik auf-
weisen, die wir schon an den Felsreliefs zu Tatong (Abb. 87) kennen gelernt haben.
Um die Wirkung zu heben, sind die ausgeschnittenen Stellen mit blau schillernden
Flügeln eines Käfers unterlegt. Die Seitenwände des oberen und unteren Teiles sind
bemalt und zwar in einer im 8. Jahrhundert bereits nicht mehr angewendeten Art
Ölmalerei, die von den Japanern Midaso oder Mitsuda genannt wird und aus einer
Zinkoxydation bestehen soll. In der gleichen Technik sind auch andere Malereien
aus dieser Zeit in Japan ausgeführt; wir können daher annehmen, daß diese Art Öl-
1) Weitere Abbildungen s. Münsterberg, Japanische Kunstgeschichte, Bd.I, Taf. EV:
__ The Tamamushi shrine in the Horiuji Tempel. Kokka, Heft 182. — Tajima, Selected
relics of Japanese art, Bd. Il.