170 Tangzeit (618—960)
gefunden hat. Die verkörperte Idee ist die gleiche wie bei der Buddhafigur:
die Weltentsagung, der Pessimismus. Aber hier ist für weite ungebildete Volks-
kreise im einzelnen ausgeführt, was vernichtet und getötet werden soll, und die
Kraft der Vernichtung durch eine etwas übertriebene Gebärde der Gottheit per-
sonifiziert. Mit den Füßen trampelt er auf der Sinnenlust und der Dummheit,
personifiziert durch einen Mann und ein Weib, und seine Attribute, die den verschie-
denen Händen zugeteilt sind, zeigen seine Macht, seine drei Köpfe mit dem dritten
Auge der Voraussehung auf der Stirn seine Klugheit und die von ihm ausgehende
Strahlengloriole seine Tugend. DieFlammenhaare und das unmongolische Gesicht haben
wir bereits als typischen Bestandteil gewisser Göttergestalten kennen gelernt (S.148/9).
Die Lehre vom Brahma, der Allseele, hatte sich nur an die Geprüften, die
Brahminen, gewendet und brauchte keine bildliche Darstellung. Auch Buddha ging
als wandernder Philosoph herum und lehrte mit Worten ohne Göttersymbole. Erst
Jahrhunderte später, als das lebendige Wort zur starren Form gestaltet war und
immer weitere Kreise ein äußeres Symbol verlangten, wurde das Bild von Buddha
selbst als Menschgott geschaffen. Und als dann die vielen Götter aufkamen, da
wurde eine Arbeitsteilung für die einzelnen vorgenommen, und eine ungeheure
Literatur formte in jedem Lande und zu den verschiedenen Zeiten immer von
neuem die Bedeutung der einzelnen Götter. Auch der christlichen Kunst sind
derartige Wandlungen nicht fremd, nur ist in der Heiligen Schrift die Gottes-
gestalt historisch begrenzt, und die Heiligen sind zwar Lokal- und Gewerkpatrone,
aber keine Götter. In den buddhistischen Schriften fehlt die Gottesgestalt. Die
Idee der Seelenwanderung herrscht, und jedes Wesen kann durch Tugend ein
Buddha werden. Als daher Buddha zum Gott erhoben wurde, mußten alle
anderen Buddhas, Bodhisatvas und alle Neuerstandenen folgen, und so ist das
Heer der Heiligen ein Götterpantheon von ungeheurem Umfange geworden.
Dazu kommt die Verschiedenheit in den Ländern, z. B. die Lieblingsgottheit
Ostasiens, die chinesische Kwanyin (Sanskrit: Avalokitesvara; japanisch: Kwanon)
wird von Millionen Menschen in Tibet, Mongolei, China und Japan angebetet, aber
sie ist im südlichen Buddhismus, in Ceylon, Burma und Siam völlig unbekannt.
Desgleichen hat ihre bildliche Darstellung durchaus gewechselt. Es scheint, daß sie
zum ersten Male im 12. Jahrhundert als weibliche Göttin dargestellt ist, während
sie in der vorhergehenden Zeit den indischen Götterformen entsprechend
geschlechtslos abgebildet wurde und in den Sutras als männlicher Gott be-
zeichnet ist. Noch später wird sie mit einem Kindlein auf dem Arme oder
Schoße dargestellt. Wenn es auch nicht bewiesen ist und kaum jemals bewiesen
werden kann, so halte ich die Annahme durchaus für möglich, daß diese letztere
Darstellung der christlichen Kunstsprache, wenn auch nicht der christlichen
Lehre entnommen ist. Daß das Christentum bekannt und weitverbreitet war,
werden wir später sehen (8. 195/6). Also der Gedanke, daß eine Umformung der
Traditionen nach dem Beispiele der christlichen Figur durch Beifügung eines Kind-
leins, als Symbol der Mutterliebe, stattgefunden hat, ist nach meinem Empfinden
nicht — wie es viele Europäer tun — ohne weiteres zu verwerfen. Wurden griechische
Symbole übernommen und die Bedeutung der Götter wiederholt verändert, warum
sollen nicht auch bei dem pantheistischen Sinne der Chinesen Vorstellungen fremder
Religionen eingedrungen sein? Ist der christliche Kult nicht mit vielen fremden
Zutaten im Laufe der Jahrhunderte bereichert worden ?
In diesem Pantheon von Göttern sich zurechtzufinden ist selbst den Chinesen
sehr schwierig, oft unmöglich. In dem Rahmen unserer kunstgeschichtlichen Aus-
führungen haben religionswissenschaftliche Untersuchungen keinen Platz, aber
einige allgemeine Hinweise erschienen mir notwendig, damit der Leser der bild-
lichen Darstellung wenigstens in.etwas gerecht werden kann. Wir erkannten, daß