206 Sungzeit (960—1280)
stärker herrschte die poetische Empfindung, die aus der Ballade das lyrische Gedicht,
aus der meisterlichen Schilderung der Natur ein romantisches Stimmungsbild schuf.
Waren früher bedeutungsvolle Symbole (Abb. 140) oder Einzelmotive der Landschaft
(Abb. 134) dekorativ den Figuren beigefügt, so wurden jetzt die Menschen, um den
Ausdruck ihrer Gedanken und Empfindungen zu verstärken, in eine passende Land-
schaft gesetzt.
Erzählten die Balladen in epischer Breite zwar auch von Liebe, aber noch
mehr von Kriegen und Jagden, Trinken und Spielen, so wurden die Ilyrischen
Gedichte zu kurzen Stimmungsversen gestaltet. Aus der langen Bildrolle, die das
Leben der Tiere und Menschen in der Landschaft schilderte, wurde das abgepaßte
Rollbild, das nur einen kleinen, aber’ bedeutungsvollen Ausschnitt der Natur wieder-
gibt. Wir werden später sehen, wie schließlich eine Landschaftsskizze oder selbst
eine einzelne Pflanze als Ausdruck der Stimmung genüste.
Nicht die Weintrauben eines Zeuxis, an denen, durch die Naturwahrheit irre-
geführt, die Vögel pickten, sondern die Seele der Natur wollten die Sungkünstler
wiedergeben. Nicht eine wissenschaftliche Abschrift der Natur, sondern eine
Niederschrift des Gesehenen und Empfundenen, häufig nur des Erträumten!
Die Natur wurde ihnen zu einem Spiegelihrer philosophischen Speku-
lationen, in ihr sahen sie nicht die schaffende Kraft, sondern den „Geist des
Drachen“,
Und noch eine Reihe weiterer Vorstellungen müssen wir uns klarmachen, um
zu verstehen, was die Chinesen der Sungzeit wollten, und um zugleich zu erkennen,
welche Momente zu dieser eigenartigen Kunstauffassung führten.
Im späteren Griechenland und ihm folgend in ganz Europa ist der Mensch als
Persönlichkeit der Mittelpunkt in der darstellenden Kunst. Seine Handlungen und
seine Gefühle in Freud und Leid, in Haß und Liebe werden dargestellt. Anders in
Asien! Der Asiate will nicht seelisch erschüttern, sondern seiner Weltanschauung
entsprechend erheben und beglücken. Philosophische Betrachtungen will er anregen,
das Ewigkeitsmoment in Schönheit und Ruhe darstellen.
Aber jene begehrende Sinnlichkeit oder jene tiefe Innerlichkeit der europäischen
Welt ist ihm fremd. Dem Chinesen gilt im Sinne der alten indischen Brahmanenlehre
die einzelne Menschenseele nur als ein Teilchen der Allseele, Und er glaubt, daß in
steter Neugeburt sie immer neue Erdenformen annimmt. Alle atmenden Wesen
und selbst die Götter sind diesem Gesetz der Seelenwanderung unterworfen. In Mil-
lionen von Jahren setzt sich der Kreislauf durch Dämonen-, Tier-, Menschen- und
Götterleiber fort, und der Abschluß, der feste Ruhepunkt, die dauernde Seligkeit
ist erst erreicht, wenn man ein Buddha geworden und in das Nirvana eingegangen
ist. Das Nirvana ist ein Nichts, kein Himmel, und daher in der Kunst nicht dar-
stellbar.
Es gibt also eine Erlösung, aber keinen Erlöser, keinen Gott. und daher fehlt
auch in der Kunst die Gottesgestalt. Buddha ist nur ein Mensch, der durch seine
Tugenden und seine Erkenntnis dieses Ziel der Ruhe erreicht hat. Und da dieses
Letzte und Höchste nicht durch Kraft und Arbeit und Taten erreicht wird. sondern
durch Selbstläuterung, durch das eigene innere Leben, so kommt mit dem Siege
des buddhistischen Lebensideales auch in der Kunst vorwiegend die Darstellung
der in sich gekehrten Heiligen und Götter, der philosophierenden Weisen und Buddha-
schüler auf, kurz der Menschen des Denkens und Empfindens im Gegensatz zu den
Schilderungen der Handlungen, die wir in kraftvoller Bewegung auf den Stein-
reliefs aus der Hanzeit angetroffen haben.
Der Mensch an sich hat keine selbständige Bedeutung, sondern ist nur der
Träger von bestimmten Ideen und Empfindungen allgemeiner Art. Seine persön-
lichen Begierden soll er unterdrücken, soll er töten, lehrt Buddha. Der einzelne