Stimmungsmalerei — Weltanschauung 207
Mensch ist nur ein Teil des Ganzen, und daher erlangt er auf dem Bilde
nicht jenes Übergewicht wie in europäischen Malereien. Die Landschaft, die ihn
umgibt, die symbolischen Tiere sind gleichwertige Teile in der Darstellung,
gleich bedeutungsvolle Träger der Ideen oder Empfindungen, die stets das
Wesentliche sind. So behält die Landschaft den gleichen Wert, wenn ein Teil, der
Mensch, in ihr fehlt.
Dieses Aufgehen des Menschen in dem umfassenden Begriffe der Weltreligion
und weiter in dem Staat und der Familie entspricht dem kommunistischen Geiste,
der auch in Europa bis zum Mittelalter herrschte, bis in der Renaissancezeit die Ent-
wicklung des Individualitätsbegrifis immer mehr Bedeutung gewann und schließlich
siegte. Der Gegensatz der kommunistischen und individuellen Weltanschauung ist
vielleicht einer der tiefsten und einschneidendsten Unterschiede zwischen dem Osten
und dem Westen der Welt.
Die Liebe zu der Natur ist als Vermächtnis ältester Zeiten dem Ostasiaten
stets treu geblieben. Wir sahen wiederholt, wie sich in seiner Empfindung Natur
und Kunst zum Gottesdienste vereint.
Für die Weltanschauung des klassischen China gilt vieles, was Groddeck in
seinen geistvollen Ausführungen!) von der Antike sagt:
„Einer der Grundunterschiede der Moderne gegenüber der Antike ist die
Stellung der Religion zur Natur. Der Grieche sah überall Gott. Die Natur
war ihm etwas Verehrungswürdiges, etwas Furchterregendes. Wir modernen
Leute mit unserer nackten Skrupellosigkeit können gar nicht verstehen, warum
der Grieche der guten Zeit so seltsame Gebräuche einhielt, wenn er einen Baum
fällte oder ein Tier jagte. Wir lächeln über die abergläubische Furcht. Leider
ist uns mit der Furcht auch die heilige Scheu entflohen. Wir stehen in gar
keinem Verhältnis zur Natur als dem des Ausnutzers gegenüber dem Aus-
genutzten.“ „Die Natur ist uns entgottet. Dem danken wir allerdings all unsere
Fortschritte in der Technik, in der Zivilisation, aber an Kultur haben wir da-
für eingebüßt, an innerem Seelenwert. Der antike Mensch bildete sich nicht
ein, Mittelpunkt der Welt, Herrscher der Erde zu sein, o nein, eher das
Gegenteil.“
„Die höchsten Kunstwerke sind wie die Berge, Flüsse und Täler Werke
der Natur.“ ‚Aus dem Einssein mit der Natur lernt die Menschheit ihr höchstes
Gut, die Dichtung, ganz gleich, ob sie in Worten, Tönen, Farben, Formen oder
Linien dichtet.“ ‚Ein Mensch, der nur des Menschen Seele durchforscht und
ihm in Leidenschaft, Streben, Schmerz, Härte und Weiche, in Freundschaft und
Kampf mit anderen Menschen darzustellen sucht, der ist niemals ein Dichter,
und wenn er das Menschenherz tiefer durchschaute und wahrer sein Wesen dar-
zustellen vermöchte als Shakespeare. Er bleibt immer und ewig ein Psychologe,
ein Charakterdarsteller, er ist, um es deutlich zu sagen, ein Schauspieler, der
aus der Wahrheit ein Stück herauswählt und zur ganzen Wahrheit fälscht.“
Dieses Sicheinsfühlen mit der Natur, im Gegensatz zur modernen Ent-
wicklung des Ichbewußtseins, bezeichnet Groddeck nach einem Worte Goethes
als „Gottnatur‘“‘. ‚Der Germane, genau so wie der Grieche der guten Zeit, ver-
stand Gottnatur, er fühlte sich als Teil ım Ganzen, als Glied. Der Gedanke,
daß der Mensch Herr der Erde sei, daß seinetwegen die Welt geschafien sei, daß
er eine unsterbliche Seele besitze, lag ihm fern.“
Drei Meister europäischer Kultur führt Groddeck als Vermittler dieser Welt-
auffassung an:
Goethe besonders in seinem „Hermann und Dorothea“. ‚In diesem Gedicht.
1) Groddeck, Hin zur Gottnatur, Leipzig 1909, 8. 14, 31, 34, 40, 50, 52, 91.