Full text: Vorbuddhistische Zeit. Die hohe Kunst: Malerei und Bildhauerei (Band 1)

   
Goethe — Leonardo da Vinei — Rembrandt — Schrift 209 
Vergangenheit führte zu jenem noch heute gültigen Lebensideal: sich zurück- 
ziehen in die einsamen Berge, die Schriften der Gelehrten studieren, die Natur 
pflegen und bewundern, Verse dichten und Bilder malen oder wenigstens sich an 
ihnen erfreuen! Und diese Beschäftigung mit Philosophie und Lyrik, das Genießen 
der Natur und der Kunstwerke war nicht nur berauschendes Naschwerk im 
trauten Stunden, sondern wurde der eigentliche und wertvollste Lebensinhalt. 
Kaiser und Staatsbeamte entsagten ihrem Berufe in reifem Alter und widmeten 
sich diesen idealen Betätigungen. Gelehrte und Künstler schlugen oft die Ehren 
des Hofes, die Vorteile einer Stellung aus, um sich dem freien Leben des 
ästhetischen Genießens hinzugeben. Diese Anschauungen waren nicht neu, aber 
erst in der Sungzeit wurden sie allgemeiner Besitz der Gebildeten und be- 
herrschten das Leben und noch mehr die Kunst. 
Das Lesen der Schriften und das Niederschreiben der Gedanken hatte in der 
Tangzeit das Interesse für die Kalligraphie vermehrt. Schönschreiben war eine 
Kunst, die ebenso wie Dichten und Malen geschätzt wurde. Anders als bei dem 
europäischen Alphabet, das sich stets mit den wenigen Buchstaben wiederholt, ist 
die chinesische Bilderschrift mit ihren vielen-tausend Zeichen zu einer persönlichen 
Ausdrucksfähigkeit geeignet. Die einzelnen Striche, ihre Anzahl und Zusammen- 
fügung ist vorgeschrieben, aber die Ausführung, die Stärke und Größe der einzelnen 
Linie, ihre eckige oder gerundete Form, ihre ästhetische Erscheinung konnte jeder 
Künstler abweichend gestalten. Diese Schriftmalerei unterlag gewissen Modegesetzen, 
und gelehrte Schriftkenner können aus dem Duktus der Schrift die Zeit der Ent- 
stehung in einer Spanne von 3000 Jahren feststellen. 
Den gewaltigen Einfluß, den diese Schreibart auf die Kunst ausgeübt hat, 
haben wir wiederholt beobachtet. In der Sungzeit begünstigte diese Malschrift ın 
schwarzer Tusche die schwarzweißen Impressionen. Das Auge und die Hand des 
Chinesen hatte sich geübt, in dem Rhythmus des Liniengefüges und in dem Ab- und 
Anschwellen der Striche besondere Schönheiten zu empfinden. Jeder einzelne Pinsel- 
strich konnte ein kleines Kunstwerk in sich sein, bedeutungsvoller als ein Ornament 
oder Schnörkel in Europa. 
Dieses Gefühl für die ästhetischen Werte der Twuschschrift förderte das 
Streben, in gleicher Weise die Bilder mit wenigen, aber bedeutungsvollen Strichen 
zum Ausdruck zu bringen. Bei den Figurendarstellungen werden wir diese Schrift- 
malerei als ausschlaggebend erkennen, dagegen bei den Landschaften machte sich 
in der Sungzeit ein Streben, von den Gesetzen der Kalligraphie freizukömmen, 
bemerkbar. Die Komposition der Landschaften hat nichts mehr mit der Kalligraphie 
gemeinsam, nur der einzelne Strich bewahrte jenes Schönheitsgesetz, das aus der 
Schrift erlernt war. 
Die abgestuften Nuancen in Schwarz ersetzten die Wirkungen der Farben. 
Die Vollendung dieser Kunst war nur möglich durch die Beherrschung der 
Technik. Der Schreiber mußte mit freischwingendem Arm in einem Zuge die 
Striche hinsetzen. Die Benutzung von Wasserfarben auf der empfindlichen Seide 
oder dem schnell aufsaugenden Pflanzenpapier verhinderte jede Korrektur. Das 
Bild mußte im Kopfe völlig fertig vorhanden sein, bevor die Niederschrift begann. 
Dadurch entstand jene Übung, alles vorher im Kopfe zu verarbeiten und mit sicherem 
Auge und geübter Hand in wenigen Minuten niederzuschreiben. Ohne dieses tech- 
nische Können würden die Impressionen der Sungzeit undenkbar sein. 
Die Anwendung der Schwarzweißmalerei ist begrenzt. Für die Schilderung 
mystischer Phantasiegebilde und romantischer Landschaften ist sie jedoch ebenso ge- 
eignet wie für die flotten Impressionen, die alle Einzelheiten vernachlässigen. In vielen 
Fällen haben die Künstler durch ganz leichte farbige Tönungen in Braun, Grün oder 
Blau, oder durch Gold und Silber die Wirkung der monochromen Malerei gesteigert. 
Münsterberg, Chinesische Kunstgeschichte 14 
     
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
    
	        
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