ZEN ZIAN TI
232 Sungzeit (960 —1280)
Daneben wirkt der schlafende Tiger (Abb. 178) mit seinen hart aufgetuschten Flecken,
dem schief gezeichneten Maul, der schlechten Umrißlinie und dem monotonen Hinter-
orund wie eine spätere Schülerarbeit; jede Kraft und Lebendigkeit fehlt dem Tiere.
Wenn wir aber dann den dritten Tiger (Abb. 179) betrachten, so fühlen wir die ganze
Größe eines ersten Meisters. Welche Auffassung in der Stellung: jede Muskel ist ge-
spannt, das große Auge bannt das Opfer, er steht zum Sprunge bereit. Die ganze
Gewalt des Herrschers der Tiere ist in überzeugender Wahrheit zum Ausdruck ge-
bracht. Und die symbolische Bedeutung dieses Sinnbildes der Kraft wird durch die
mystischen Nebel angedeutet, aus denen Kopf und Pranken herausleuchten; nur
wenige, flott skizzierte Blätter deuten die Umgebung an.
Als Gegenstück zu dem Symbol der irdischen Kraft ist der himmelaufsteigende
Drache (Abb. 180), das Symbol der himmlischen Kräfte, gemalt. Auch er ist in
Wolken und Nebel gehüllt, und nur wesentliche Teile des Kopfes schimmern aus
der Welt des Unfaßbaren mystisch heraus.
Sollte wirklich die gleiche Meisterhand, die diese verschwimmenden Lufttöne,
der gleiche Geist, der diese Seelen der Tiere gemalt hat, auch der Verfertiger der beiden
anderen Tiger sein?
Ein Bild von tiefer poetischer Kraft (Taf. III, A) ist die fast einen Meter lange
Nebellandschaft: „Das
Abendgeläute eines entfernten
Tempels.“ — Der Abend breitet
seine Schatten über die Land-
schaft, und dicke Nebel steigen
auf, Berge und Bäume verhüllend.
Die stille Ruhe der Nacht be-
ginnt. Die letzten Spitzen von
Bergen und Bäumen sind am
fahlen Himmel noch sichtbar und
der Dachfirst eines fernen Tem-
pels, dessen dumpfe Glocken
weithin in die Täler schallen und
den Menschen die Ruhe nach
des Tages Arbeit künden: Friede
auf Erden!
Dieser der Poesie entlehnte
Vorwurf gehört zu den „acht
berühmten Landschaften“ der
Flüsse Hsiao und Hsiang, südlich
vom See Tongting in Honan.
Immer und immer wieder wurden
von den verschiedensten Künst-
lern, ohne Rücksicht auf die
wirkliche Gegend, unter diesem
Titel stimmungsvolle Phantasie-
landschaften erfunden. Binyon
vergleicht dieses Motiv mit dem
„Angelus“ von Millet, dessen
poetischer Geist in der Dämme-
rung von Barbizon ähnlich emp-
fand, wenn die Abendglocken aus
Abb. 177 Sitzender Tiger, schwarzweiß, etwal,5 mhoch, im Daito- EB x & .
kujitempel, Kyoto, TapeR: Ko Auch FOL) uiszelt, 1127-1278 der Kirche zu Chailly über die
Aus: Kokka, Heft 190) ® Te Tr
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